Zum Klassencharakter der Sowjetunion

Alle Vereinigungswilligen akzeptieren das Etikett „revolutionäre Sozialisten“. Stellt man jedoch die ABC-Frage: Was ist denn nun eigentlich Sozialismus? — so wird man die unterschiedlichsten Antworten zu hören bekommen. Das einzige Gemeinsame des „Beilagenkreises“ besteht darin, daß die Organisationen sich auf Marx, Engels und Lenin berufen, jedoch wenig mit Marxismus, sondern — BWK und KPD vor allem — etwas mit der stalinistischen Theorie vom Sozialismus in einem Lande gemein haben.

„Die sozialistische Gesellschaft umfaßt eine ziemlich lange geschichtliche Periode. Die ganze Geschichtsperiode des Sozialismus hindurch existieren Klassen, Klassenwidersprüche und Klassenkämpfe, existiert der Kampf zwischen den zwei Wegen, dem des Sozialismus und dem des Kapitalismus“ zitiert die KPD Mao Zedong.[1]Kommunistische Hefte (KH) 13, S. 138 Und auch der KBW schrieb in seinem Programm: „Während der ganzen geschichtlichen Periode von der Machtergreifung des Proletariats bis zur Vollendung des Kommunismus existieren noch Klassen, Klassenwidersprüche und Klassenkampf“. Lenin charakterisierte dagegen in Staat und Revolution die erste, niedere Phase des Kommunismus, die man gewöhnlich als Sozialismus versteht, u.a. dadurch: „Der Staat stirbt ab, sofern es keine Kapitalisten, keine Klassen mehr gibt und man daher auch keine Klasse mehr unterdrücken kann“.[2]Lenin, AW in 6 Bänden, Bd. III, S. 557

Immer wieder frappierend ist es festzustellen, in welch offenkundigem Widerspruch die Stalinisten zu grundsätzlichen Aussagen des Marxismus stehen und wie dreist sie diesen reklamieren um ihrem Revisionismus Autorität zu verleihen. Seit 1917 hat die internationale Arbeiterbewegung eine Periode von Niederlagen durchmachen müssen, die sich auch in dem theoretischen Niveau der Auseinandersetzung niederschlagen. Wir sind uns also bewußt, daß die Konfusion ganzer Generationen von subjektiven Revolutionären durch den Stalinismus nicht mit einer rein theoretischen Rückbesinnung auf Marx, Engels, Lenin und Trotzki einfach wettzumachen ist. Programmatische Klarheit über den Charakter der Oktoberrevolution und ihre Degeneration ist jedoch die Voraussetzung revolutionärer Praxis heute; in diesem Sinn ist die theoretische Rekapitulation der Grundlagen des Marxismus eine zwingende Notwendigkeit.



Die marxistische Sozialismus-Konzeption

Im Kommunistischen Manifest schreiben Marx und Engels: „Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, d. h. des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren … Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter … An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.[1]Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 481 f

Lenin vertiefte das marxistische Verständnis von Sozialismus und Kommunismus, indem er die Marxsche Kritik des Gothaer Programms gegen die Opportunisten wieder „ausgrub“, wie er sich ausdrückte, und in Staat und Revolution eine genauere Charakterisierung des Sozialismus vornahm. Hier entwickelt er die Konzeption der klassenlosen, sozialistischen Gesellschaft im Unterschied zur kommunistischen: „Die gesamte Gesellschaft wird ein Büro und eine Fabrik mit gleicher Arbeit und gleichem Lohn sein“.[2]Lenin, AW Bd. III, S. 564 Die Produktionsmittel sind schon nicht mehr Privateigentum einzelner Personen, sondern gehören bereits der gesamten Gesellschaft (Gemeineigentum im Unterschied zum verstaatlichten Eigentum). Es existiert Gleichheit bei noch bestehendem bürgerlichem Rechtshorizont im Unterschied zur kommunistischen Freiheit. Der Staat stirbt ab, insofern es keine Kapitalisten, keine Klassen mehr gibt, behält jedoch seine Restfunktionen als Organ der strengsten Kontrolle und Rechnungsführung bei. Prinzip dieser sozialistischen Gesellschaft ist: „Für das gleiche Quantum Arbeit das gleiche Quantum Produkte“ oder anders ausgedrückt: „Jedem nach seiner Arbeitsleistung“.

Angesichts der Tradition des Marxismus sowie der internationalen Krise des Kapitals hatte es Lenin nicht nötig, gesondert in Staat und Revolution auf den internationalen Charakter der sozialistischen Gesellschaft zu verweisen. Der Marxismus ist die revolutionäre Negation der sich international entwickelnden kapitalistischen Verhältnisse. Wenn Sozialismus die qualitative Steigerung der vom Monopolkapitalismus geschaffenen Produktivkräfte zur Voraussetzung hat, kann sich diese Gesellschaftsformation nicht an einen national-bornierten Rahmen halten, den die imperialistische Bourgeoisie selbst schon lange durchbrochen hat, ohne ihn politisch überwunden zu haben. Proletarischer Internationalismus, internationale sozialistische Revolution bedeuten nicht platonische Solidarität, sondern ist materielle Voraussetzung der internationalen sozialistischen Assoziation.

In den Grundsätzen des Kommunismus bei Engels, im Kommunistischen Manifest, immer wieder wiesen die Begründer des historisch-dialektischen Materialismus in den Auseinandersetzungen mit den Anhängern des „Kasernenhofsozialismus“ (Weitling u.a.) auf den internationalen Charakter der proletarischen Revolution hin. Letzteren ging es nur um die revolutionäre Neuverteilung auf Grundlage der von der Bourgeoisie entwickelten Produktionsverhältnisse. Hier ist es wichtig festzuhalten, daß Marx und Engels an die Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus nach einer Periode der Diktatur des Proletariats nur in den „zivilisierten Ländern“, ausgehend von der materiellen Grundlage der modernsten kapitalistischen Produktivkräfte, dachten. Gegen Proudhon zeigte Marx: „… diese Entwicklung der Produktivkräfte …(ist) auch deswegen eine absolut notwendige praktische Voraussetzung, weil ohne sie nur der Mangel verallgemeinert, also mit der Notdurft auch der Streit um das Notwendige wieder beginnen und die ganze alte Scheiße sich herstellen müßte, weil ferner nur mit dieser universellen Entwicklung der Produktivkräfte ein universeller Verkehr der Menschen gesetzt ist“.[3]Marx/Engels, Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 34 f

In ihrer maoistischen Tradition der „primitiven Gleichmacherei“, der Vorstellung, selbst auf vorkapitalistischem Entwicklungsstand der Produktivkräfte den Sozialismus direkt aus dem Boden stampfen zu können, müssen BWIC und KPD diesen Ausgangspunkt des Marxismus leugnen. So läßt sich schon bei Marx und Engels eine erste Antwort auf die idealistische KPD-Kritik der „produktionistischen Anschauungen“, die auch „in mehr oder weniger extremer Form von vielen bolschewistischen Führern (!) geteilt wurden“, finden. [4]KH 10, S. 53 Genosse Schneider greift keineswegs nur Trotzki an, wenn er feststellt: „Diese ‚Theorie der Produktivkräfte‘ — wie sie in der eingangs erwähnten chinesischen Polemik gegen die KPdSU genannt wurde — ist keineswegs ein Produkt neuerer Zeit … Auch diese Theorie hat die sozialistische Bewegung vor und nach der Oktoberrevolution geprägt (!); als extremer Repräsentant dieser Theorie soll hier nur Trotzki angeführt werden: ‚Kraft und Bestand eines Regimes sind letzten Endes durch die relative Ergiebigkeit der Arbeit bestimmt. Eine vergesellschaftete Wirtschaft, die technisch dem Kapitalismus überlegen ist, könnte in der Tat vollkommen, sozusagen automatisch ihrer sozialistischen Entwicklung sicher sein, was man von der Sowjetwirtschaft leider noch keinesfalls sagen kann‘.“[5]KH 13, S. 82 So antwortet Engels auf die Frage „Was werden die Folgen der schließlichen Beseitigung des Privateigentums sein“ unter anderem: „Statt Elend herbeizuführen, wird die Überproduktion über die nächsten Bedürfnisse der Gesellschaft hinaus die Befriedigung der Bedürfnisse aller sicherstellen, neue Bedürfnisse und zugleich die Mittel, sie zu befriedigen, erzeugen … Diese Entwicklung der Industrie (!) wird der Gesellschaft eine hinreichende Masse von Produkten zur Verfügung stellen, um damit die Bedürfnisse aller zu befriedigen“.[6]Engels, Grundsätze des Kommunismus, MEW 4, S. 375 Die maoistische These des „notwendigen Primats der Politik gegenüber der Ökonomie“ ist eine flagrante Revision der materialistischen Methode, bewußtes Handeln entlang der materiellen Umstände zu bestimmen.[7]KH 10, S. 98

Ebenso muß diesen Stalinisten der vierten Generation die Entstehung und Entwicklung des Bolschewismus ein Buch mit sieben Siegeln sein. Mit der Sozialismustheorie Maos (die auf der Stalins basiert) können sie nicht mehr die Auseinandersetzung innerhalb der russischen Sozialdemokratie um die adäquate Anwendung des Marxismus nachvollziehen. Denn gerade durch die Betonung der Rückständigkeit der russischen Verhältnisse glaubten sich die Menschewiki in der marxistischen Tradition und „bewiesen“ die Unmöglichkeit der sozialistischen Arbeiterrevolution in einem Land mit nicht voll ausgereiften kapitalistischen Verhältnissen. Lenin erklärte dagegen im Mai 1906: „Die russische, Revolution hat genug eigene Kraft, um zu siegen. Sie hat Jedoch nicht genug Kraft, um die Früchte des Sieges zu behaupten … Denn in einem Land, mit riesiger Entwicklung des Kleinbetriebes werden sich die kleinen Warenproduzenten (einschließlich der Bauern) unweigerlich gegen den Proletarier wenden, sobald er von der Freiheit zum Sozialismus weiterschreitet … Um eine Restauration zu verhüten, braucht die russische Revolution eine nichtrussische Reserve, braucht sie Hilfe von außerhalb. Gibt es eine solche Reserve auf der Welt? Jawohl, es gibt eine: das sozialistische Proletariat im Westen“.[8]Lenin, Bericht über den Vereinigungsparteitag der SDAPR, Lenin Werke Bd. 10, S. 335 Der Inhalt „der revolutionären Diktatur der Arbeiter und Bauern“ wurde von Lenin jedoch noch rein demokratisch gefaßt (u.a. ging es um die Lösung der Agrarfrage), die Herrschaft des Proletariats ohne bereits erfolgte sozialistische Revolution im Westen hielt Lenin bis zu den Aprilthesen 1917 für unmöglich. Trotzki formulierte dagegen 1906 in Ergebnisse und Perspektiven die Theorie der Permanenten Revolution: Das Proletariat, gestützt auf die Bauernschaft, darf sich nicht auf demokratische Aufgaben beschränken, sondern muß diese „im Vorbeigehen“, im Kontext der proletarischen Diktatur als Teil der sozialistischen Weltrevolution lösen.

Der Richtungsstreit in der russischen Sozialdemokratie bezog sich also auf die Frage des Inhalts der kommenden Revolution: bürgerliche oder proletarische Revolution. Allen Richtungen der russischen wie internationalen sozialdemokratischen Bewegung war jedoch die Konzeption des Sozialismus in einem Lande auf der Grundlage materieller Armut absolut fremd. Die „geschichtslosen“ Maoisten sollten also zur Kenntnis nehmen, daß ihre Sozialismus-Konzeption sich auf die vollständige Negation der traditionellen marxistischen Doktrin des Kommunismus gründet. Ihre Grundlage ist Stalin und nicht Marx, Engels oder Lenin, wobei Trotzki sehr präzise die Geburtsstunde dieser revisionistischen Theorie benannt hat: „Noch im April 1924, drei Monate nach Lenins Tod, legte Stalin bescheiden die traditionellen Ansichten der Partei dar: …‚Die Macht der Bourgeoisie stürzen und die Macht des Proletariats in einem Lande errichten‘, schrieb er in seinen ‚Problemen des Leninismus‘, ‚heißt noch nicht den vollen Sieg des Sozialismus sichern. Die Hauptaufgabe des Sozialismus — Organisierung der sozialistischen Produktion — steht noch bevor. Kann man diese Aufgabe lösen, kann man den endgültigen Sieg des Sozialismus in einem Lande erreichen ohne gemeinsame Anstrengungen der Proletarier einiger fortgeschrittener Länder? Nein, das ist nicht möglich ‘… Gegen Herbst desselben Jahres ergab sich plötzlich, unter dem Einfluß des Kampfes gegen den Trotzkismus, daß gerade Rußland, zum Unterschiede von den anderen Ländern, mit eigenen Kräften die sozialistische Gesellschaft aufbauen kann, wenn es durch eine Intervention von außen nicht gestört wird. ‚Nachdem es seine Macht gesichert hat und die Bauernschaft hinter sich führt‘, schrieb Stalin in der neuen Auflage der gleichen Arbeit, ‚kann und muß das Proletariat des siegreichen Landes die sozialistische Gesellschaft aufbauen‘.[9]Trotzki, Geschichte der russischen Revolution 2, 2, S. 1033 f

Festzuhalten bleibt, daß die Sowjetunion — damals wie heute — nicht als sozialistische Gesellschaft zu charakterisieren ist. Bevor wir uns der konkreten Analyse der Klassengesellschaft Sowjetunion zuwenden, müssen wir die Konzeption des Übergangs zum Sozialismus rekapitulieren: die Diktatur des Proletariats.



Zur Diktatur des Proletariats

„Sozialismus ist Abschaffung der Klassen. Die Diktatur des Proletariats hat für diese Abschaffung alles getan, was sie tun konnte. Aber auf einen Schlag kann man die Klassen nicht abschaffen. Und die Klassen sind geblieben und werden für die Dauer der Epoche der Diktatur des Proletariats bestehenbleiben“ (Lenin).[1]Lenin, AW Bd. V, S. 303

Während Stalin in den 20er Jahren in der UdSSR den Sozialismus als bereits zu 9/10 verwirklicht ansah, um ihn 1936 in der UdSSR-Konstitution bürokratisch zu dekretieren, schwanken seine Nachfolger — früher Chruschtschow und heute wieder Gorbatschow — über den genauen Zeitpunkt des Eintritts der Sowjetunion in die Phase des Kommunismus.

Linkere Stalinisten haben sich dagegen bemüht, doch zumindest den Beginn des Sozialismus in der UdSSR zu konstatieren, da die Behauptung eines vollständigen Sieges in allzu großem Kontrast zum häßlichen Alltag stand. Und ist nicht die Diktatur des Proletariats der Beginn der neuen sozialistischen Gesellschaftsformation?

Durch die Betonung der prozeßhaften Verbindung von proletarischer Diktatur und Sozialismus wird so versucht, Lenin umzuinterpretieren. Wir werden später analysieren, daß mit der Herrschaft der Bürokratie auf Grundlage proletarischer Eigentumsformen die Möglichkeit des „organischen“ Hinüberwachsens der Diktatur des Proletariats in den Sozialismus versperrt ist; somit die deformierte Diktatur des Proletariats in der Sowjetunion in einer Sackgasse steckt.

Wenn Marx, Engels und Lenin auf die notwendige ökonomische Reifung bis hin zur klassenlosen Gesellschaft hingewiesen haben, so waren sie ebenfalls kategorisch im Festhalten an einer Transformationsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus: „Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats“.[2]Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 28 Marx versteht hier unter Kommunismus dessen niedere und höhere Phase, die seit Lenins Periodisierung als Sozialismus und Kommunismus gekennzeichnet wurden. Aus der zitierten Kritik des Gothaer Programms geht eindeutig hervor, daß Marx die Übergangsperiode (oder Übergangsgesellschaft), also die Diktatur des Proletariats vom Kommunismus beider Phasen unterschied.

Die KPD fälscht Marx und vertraut auf die Unkenntnis des Publikums, wenn sie diese Periodisierung unterschlägt: „Zum einen führt er (Marx) jetzt für den eben genannten ‚Übergangspunkt‘ den Begriff der Übergangsperiode ein, womit zum Ausdruck kommt, daß zwischen dem revolutionären Sturz des Kapitalismus und der Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft eine längere historische Zeitspanne liegt. Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats. Zum anderen unterscheidet Marx als Konsequenz aus dieser Erkenntnis jetzt auch zwei Phasen der kommunistischen Gesellschaftsformation voneinander: eine erste Phase (also die Übergangsperiode, die seit der Oktoberrevolution allgemein mit dem Begriff ‚Sozialismus‘ bezeichnet wird) und eine höhere Phase (also den eigentlichen Kommunismus als klassenlose Gesellschaft)“.[3]KH 9, S. 108

Und auf dieser Fälschung baut die KPD ihre Theorie des Sozialismus auf, ihre Einschätzung der Sowjetunion nach 1917, sowie ihr ganzes windiges Vorgehen, die Sowjetunion unter Stalin — trotz allem Ach und Weh — als sozialistische, seit Chruschtschow jedoch als kapitalistische Gesellschaft zu charakterisieren.[4]siehe auch KH 9, S. 71, KH 13, S. 4 und KH 13, S. 13

So nimmt die KPD sich selbst auf den Arm, wenn sie meint: „Nur über die Übergangsgesellschaft des Sozialismus kann das Endziel, der Kommunismus, erreicht werden. In der Arbeiterbewegung besteht aber heute keine auch nur annähernd einheitliche Vorstellung vom Sozialismus, vielmehr ist eine große Orientierungslosigkeit festzustellen“.[5]KH 9, S. 49 Während die Genossen von KPD und BWK durch ihre stalinistische Brille die Diktatur des Proletariats und Sozialismus in eins setzen, hebt Lenin diese Umbruchperiode von der alten in die neue Gesellschaft in Staat und Revolution besonders hervor. Lenin konzentriert sich hier auf die politische Seite der Diktatur des Proletariats, auf die Frage der Machtausübung der Mehrheit über die Minderheit in der Form des Sowjets der bewaffneten Arbeiter- und Soldatendeputierten.

Nun werden die Theoretiker der KPD nicht müde, auf die Besonderheit der russischen Revolution zu verweisen. So konstruieren sie eine Übergangsperiode nach 1917, um ihr revisionistisches Bild vom Sozialismus als Klassengesellschaft zu retten: „Daraus ergibt sich erstens, daß Lenin die Übergangsperiode absolut nicht auf ein Stadium zwischen Kapitalismus und Sozialismus begrenzt …, sondern auf die gesamte Phase bis zur Verwirklichung des eigentlichen Kommunismus bezogen hat. Zweitens hat Lenin herausgestellt, daß unter bestimmten Bedingungen ‚eine Übergangsperiode in der Übergangsperiode‘ notwendig sein kann, wobei diese Bedingungen offensichtlich vor allem in einem ungenügenden Entwicklungsstand der Produktivkräfte (wie er konkret für Rußland kennzeichnend war) begründet liegen. Keineswegs ergibt sich also für jedes Land die Notwendigkeit, nach der proletarischen Revolution eine besondere Übergangsperiode zum Sozialismus durchzumachen“.[6]KH 13, S. 13

Die politische Funktion dieser Analyse für die KPD erkennt man erst, wenn man ihre Schlußfolgerungen (insbesondere im Bereich demokratischer Rechte unter der Diktatur des Proletariats) nachvollzieht und diese den Aussagen Lenins über die notwendige Unterdrückung der Ausbeuterklassen in dieser Periode gegenüberstellt.

So glaubt sich Koch aus dem Schneider, wenn er feststellt: „Tatsächlich hat Lenin die aus der schwierigen Lage in der Anfangsphase der Sowjetunion geborenen Verhältnisse allenfalls in einem sehr eingeschränkten Sinn als sozialistisch betrachtet. Er hielt in den hochindustrialisierten Ländern nach dem Übergang der politischen Macht an die Arbeiterklasse direkt kommunistische Maßnahmen für möglich“.[7]KH 10, S. 17 Und was folgert die KPD daraus für den „Sozialismus“ der Zukunft, z.B. für die Charakterisierung des proletarischen Staates als Repressionsorgan?

„Die in der Arbeiterklasse vorherrschende Vorstellung über die Rolle des Staates im Sozialismus ist aufgrund der Anschauung der revisionistischen Länder die, daß im Sozialismus der staatliche Zentralismus total, das Gewicht des Staates gegenüber der Gesellschaft erdrückend und der Staat absolut unabhängig ist gegenüber den Bestrebungen des Volkes. Diese Vorstellung vom ‚totalen Staat‘, die bei den fortschrittlichen Menschen (!) auf Ablehnung stößt, steht im Widerspruch zu den Auffassungen von Marx und Engels …“. Und weiter: „Der Arbeiterstaat, der im Gegensatz zum bürgerlichen Staat ein Staat der großen Mehrheit des Volkes ist, ist zugleich der erste Schritt zur Abschaffung des Staates als besonderem Gewaltapparat überhaupt. Er kann nicht einfach den Zentralismus (!), den hierarchischen Aufbau, den wuchernden, die ganze Gesellschaft erdrückenden Bürokratismus des bürgerlichen Staates wiederholen. Weil er die direkte politische Einflußnahme der Arbeiterklasse und der Werktätigen verwirklichen will, kann er auch den bürgerlichen Parlamentarismus nicht übernehmen, sondern muß direkte Demokratie verwirklichen. Davon wird die Möglichkeit der legalen Existenz und Tätigkeit verschiedener (?) politischer Parteien — und nicht nur der kommunistischen — nicht berührt“.[8]KH 10, S. 12 ff Zwar hält die KPD an der Notwendigkeit von Unterdrückungsmaßnahmen gegenüber der Bourgeoisie fest. Jedoch die Feststellung, „gerade die Unterdrückung der Konterrevolution muß in erster Linie eine Frage des politischen Massenkampfes der Arbeiter sein und darf nicht in erster Linie zu einer Frage der staatlichen Unterdrückungsapparate werden“, die „demokratische“ Gegenüberstellung von staatlichen und Massenaktivitäten zur Unterdrückung der Konterrevolution zeigt die tiefe Verbeugung der KPD vor der bürgerlichen Propaganda vom „totalitären Staat“.[9]KH 10, S. 14 f Sie kokettiert mit der „sozialistischen Demokratie“ der reformistischen GIM, die den bürgerlichen Parteien explizit das Recht der Organisationsfreiheit zusichern will.[10]siehe „Denn sie wissen, was sie nicht tun“ Die KPD-Analyse ist nur eine rechte Interpretation der bolschewistischen Taktik zur Niederhaltung der bürgerlichen Konterrevolution, die auch den roten Massenterror im Bürgerkrieg einschloß. Sie kann sich nicht auf Lenin, sondern muß sich auf Kautsky berufen, der Marx in einen „Dutzendliberalen“ verwandeln wollte.

„Notwendiges Merkmal, unerläßliche Bedingung der Diktatur ist die gewaltsame Niederhaltung der Ausbeuter als Klasse und folglich eine Verletzung der ‚reinen Demokratie‘, d. h. der Gleichheit und Freiheit, gegenüber dieser Klasse“.[11]Lenin, AW Bd. IV, S. 579 Und dann kommt Lenin auf die Besonderheiten der russischen Bedingungen der Diktatur des Proletariats zu sprechen: „Hier muß bemerkt werden, daß die Entziehung des Wahlrechts für die Ausbeuter eine rein russische Frage und nicht eine Frage der Diktatur des Proletariats überhaupt ist … Es wäre jedoch ein Fehler, sich im voraus dafür zu verbürgen, daß die kommenden proletarischen Revolutionen in Europa, alle oder in ihrer Mehrzahl, unbedingt eine Beschränkung des Wahlrechts für die Bourgeoisie bringen werden. So kann es kommen. Nach dem Krieg und nach den Erfahrungen der russischen Revolution wird es wahrscheinlich so kommen, aber das ist zur Verwirklichung der Diktatur nicht obligatorisch, ist kein notwendiges Merkmal des logischen Begriffs der Diktatur, gehört nicht als notwendige Bedingung zum historischen und klassenmäßigen Begriff der Diktatur“.[12]ebenda, S. 578 f Wie man sieht, hält Lenin die Entziehung des Wahlrechts und — so dürfen wir folgern — den Entzug demokratischer Rechte für die Bourgeoisie insgesamt unter den Bedingungen der Diktatur des Proletariats (dem Sozialismus für KPD und BWK) für recht wahrscheinlich. Die Gewährung demokratischer Rechte gegenüber der Bourgeoisie ist also eine Taktik und kein Prinzip, ihre Gewährung ist abhängig von der Stabilität eines Arbeiterstaates, vom aktuellen Stand des Klassenkampfes mit den ehemaligen Ausbeuterklassen. Nur die Arbeiter- und kleinbürgerlichen Organisationen, die für die Verteidigung des Arbeiterstaates gegen die bürgerliche Konterrevolution eintreten, haben prinzipiell das Recht auf Schutz durch die Arbeiterdemokratie. Nur das läßt sich mit Sicherheit über die Diktatur des Proletariats jetzt schon sagen; die KPD (und die GIM) macht dagegen aus unterschiedlichen Bedingungen der Diktatur des Proletariats in verschiedenen Ländern eine falsche Gegenüberstellung von Übergangsperiode und Diktatur, wobei sie nur selber das sozialdemokratische Vorurteil vom „totalitären Staat“ nachäfft. Nicht von ungefähr war ein zentrales Thema der internationalen Sozialdemokratie seit 1917 die „bolschewistische Terrorpolitik“, ergänzt durch die Theorie Kautskys vom russischen Staatskapitalismus.



Die russische Oktoberrevolution und ihre Degeneration

Mit ihrer menschewistischen Etappenkonzeption haben die Stalinisten nie erklären können, warum gerade in Rußland, einem Land mit hoher proletarischer Konzentration in wenigen Städten in einem Meer von Bauernwirtschaften, die proletarische Revolution gestützt auf die Bauernschaft siegen konnte. Die Sicherung des ersten und bisher einzigen revolutionären Arbeiterstaates war die praktische Bestätigung der Theorie der Permanenten Revolution, der Konzeption Trotzkis.

Die materielle Grundlage der proletarischen Diktatur wurde durch die Enteignung der Kapitalistenklasse, die Etablierung einer zentral gelenkten Planwirtschaft und die Schaffung eines Außenhandelsmonopols gebildet. Von dieser „sozialistischen Bastion“ aus mußte die ökonomische Konkurrenz mit den kapitalistischen und vorkapitalistischen Produktionsverhältnissen — in Rußland vor allem der Bauernwirtschaft, generell mit der kleinen Warenproduktion — organisiert werden. Gerade diesen Prozeß der Herausbildung und Festigung der materiellen Grundlage der Diktatur analysiert Genosse Schneider in seiner Abhandlung Von der Oktoberrevolution zur Neuen Ökonomischen Politik nicht, wenn er die staatskapitalistische bzw. die NEP-Politik beschreibt. Seine Hervorhebung der Versuche der Bolschewiki, die Masseninitiativen zu organisieren ohne deren materielle Umsetzung zu benennen, läuft auf ein idealistisches Verständnis der Revolution hinaus.

In seiner Schrift Ökonomik und Politik in der Epoche der Diktatur des Proletariats faßte Lenin 1919 die Grundlage der russischen Diktatur folgendermaßen zusammen: „Die Arbeit ist in Rußland insofern kommunistisch vereint, als erstens das Privateigentum an den Produktionsmitteln abgeschafft ist und zweitens die proletarische Staatsmacht in gesamtnationalem Maßstab die Großproduktion auf staatlichem Grund und Boden und in staatlichen Betrieben organisiert, die Arbeitskräfte auf die verschiedenen Wirtschaftszweige und Betriebe aufteilt und die dem Staat gehörenden Konsumtionsmittel im großen Rahmen unter die Werktätigen verteilt“.[1]Lenin, AW Bd. V, S. 279 Dies ist der Ausgangspunkt für seine Überlegungen über die weitere Entwicklung der Sowjetwirtschaft im Kontext der internationalen Revolution.

Von 1917 bis zum Herbst 1918 bestand seine Politik noch wesentlich in der Beschränkung der Kapitalistenklasse durch die Arbeiterkontrolle der Produktion, unter Beibehaltung des kapitalistischen Privateigentums. Die Sabotage der Bourgeoisie und das Vordrängen der Arbeiterklasse, die weitere Entfaltung des Klassenkampfes nach der Machtergreifung der Bolschewiki, zwangen zu einer tiefgehenden Korrektur: der Verstaatlichung der Produktionsmittel. Die Notwendigkeiten des Bürgerkrieges, oder anders ausgedrückt: der Kriegskommunismus, zwangen zu Maßnahmen, die unter den Bedingungen des Mangels nur scheinbar als direkt kommunistische gelten konnten. Die schließliche Zerrüttung der Wirtschaft, in der Geld endgültig zu „bunten Papierlappen“ wurde, führte in der Bauernschaft zur offenen Rebellion. Sie weigerte sich die Städte zu beliefern, da sie kein Äquivalent für ihre Produkte erhielt. Die Requirierungskommandos auf dem Lande, die nun den „direkten Austausch“ organisierten, trugen zu ihrer Erbitterung bei, die ihre politische Zuspitzung in der Kronstadtrebellion 1921 fand.

Der zur gleichen Zeit stattfindende 10. Parteitag beschloß — schon fast zu spät — auf Initiative Lenins die Neue Ökonomischen Politik (NEP). Die Smytschka, also die Verbindung zwischen Proletariat und Bauernschaft, zwischen staatlicher Industrie und kleiner Warenproduktion mußte wieder hergestellt werden. Die NEP-Politik wurde explizit als ein Rückschlag, als eine tendenzielle Rückkehr zum Kapitalismus aufgefaßt; die Ersetzung der Abgabepflicht durch die Naturalsteuer der Bauern sollte zur Wiederankurbelung der bäuerlichen Produktion führen, ohne die an eine Entwicklung der Produktivkräfte in Rußland nicht zu denken war.

Die NEP-Politik der Bolschewiki hat bis heute zu einer großen Konfusion in der Linken geführt. Für die Anarchisten und Anarchosyndikalisten war sie der letzte Beweis für den Sieg des Kapitalismus in Rußland. Die Anhänger Bordigas sehen ihre Sozialismus-Interpretation durch Lenin bestätigt, da dieser von einem kapitalistischen Charakter der gesamten Ökonomie Rußlands ausgegangen sei. Und auch Schneider konstatiert: „Lenins Begriff des Staatskapitalismus (gemeint ist damit immer ein Staatskapitalismus unter den Bedingungen der politischen Herrschaft des Proletariats) in dieser Periode ist allerdings nicht eindeutig“.[2]KH 10, S. 57 Dabei ist Lenin sehr präzise bei dessen Verwendung!

In seiner Schrift Über die Naturalsteuer (1921) unterscheidet Lenin die unterschiedlichen Produktionsformen des Arbeiterstaates streng voneinander: „1. Die patriarchalische Bauernwirtschaft, die in hohem Grade Naturalwirtschaft ist; 2. die kleine Warenproduktion (hierher gehört die Mehrzahl der Bauern, die Getreide verkaufen); 3, der privatwirtschaftliche Kapitalismus; 4. der Staatskapitalismus; 5. der Sozialismus“.[3]Lenin AW Bd. VI, S. 234 Unter Staatskapitalismus verstand er insbesondere Konzessionen an ausländische Imperialisten, Industrieproduktion unter deren Kommando. „Der Staatskapitalismus in der Form von Konzessionen ist, verglichen mit anderen Formen des Staatskapitalismus innerhalb des Sowjetsystems, wohl die einfachste, deutlichste, klarste, genauestens umrissene Form“.[4]ebenda, S. 252 Darüber hinaus erweitert Lenin den Staatskapitalismus-Begriff, indem er die Genossenschaften als eine „weniger einfache, weniger scharf ausgeprägte, verwickeltere Form“ des Staatskapitalismus erwähnt; dann die Zwischenhändler, schließlich die Verpachtung an kapitalistische Unternehmen.[5]ebenda, S. 253 In keiner Weise vermischt er jedoch den Staatskapitalismus mit dem „Sozialismus“, will heißen mit der staatlich organisierten Industrie. Deren Verhältnis zueinander wird vielmehr eindeutig bestimmt: „Das mag als ein Paradox erscheinen: der privatwirtschaftliche Kapitalismus in der Rolle eines Helfers des Sozialismus? Aber das ist keineswegs ein Paradox … Da wir ein kleinbäuerliches Land … vor uns haben …, das politisch geführt wird vom Proletariat, in dessen Händen sich das Verkehrswesen und die Großindustrie befinden, so ergibt sich aus diesen Voraussetzungen ganz unvermeidlich .., die Möglichkeit, den Sozialismus auf dem Wege über den privatwirtschaftlichen Kapitalismus (ganz zu schweigen vom Staatskapitalismus) zu fördern“.[6]ebenda, S. 261 f Es geht also um die Förderung des „Sozialismus“ durch den „Staatskapitalismus“; Staatskapitalismus sieht Lenin in der Rolle des Helfers, ordnet diesen dem verstaatlichten Sektor zu. Denn mit letzterem steht und fällt die ökonomische Grundlage der Herrschaft des Proletariats über die bisherigen Ausbeuterklassen; die Verstaatlichung der Produktionsmittel ist (bis heute) für die Bestimmung des Klassencharakters der Sowjetunion entscheidend. Grundlage der Ökonomik des Proletariats bleibt also: „Das Proletariat ist, nachdem es die Bourgeoisie gestürzt und die politische Macht erobert hat, zur herrschenden Klasse geworden: Es hält die Staatsmacht in Händen, es verfügt über die schon vergesellschafteten Produktionsmittel, es führt die schwankenden, eine Zwischenstellung einnehmenden Elemente und Klassen, es unterdrückt den verstärkten Widerstand der Ausbeuter“.[7]Lenin, AW Bd. V, S. 304

Zwar vertritt Schneider nicht die These vom staatskapitalistischen Charakter der Sowjetunion in ihrer revolutionären Periode, jedoch „entgeht“ ihm völlig die Unterordnung der staatskapitalistischen Methoden unter das verstaatlichte Eigentum in der Programmatik Lenins. In der UdSSR nach 1917 gibt es für Schneider keinen Sozialismus -“ … jedenfalls nicht in dem Sinne der Forderung von Engels: ‚Die alte Produktionsweise muß also von Grund aus umgewälzt werden, und namentlich muß also die alte Teilung der Arbeit verschwinden‘“.[8]KH 10, S. 121 Von der Diktatur des Proletariats im Unterschied zum Sozialismus hat er aber keinen Begriff. Wir hatten schon darauf hingewiesen, wie Schneider die Kategorie der „Übergangsperiode in der Übergangsperiode“ benutzt, um sein Bild vom „Sozialismus in einem Lande“ zu retten. Diese Formel ist der Ausgangspunkt seiner weiteren Analyse: „Von besonderer Bedeutung ist hier, daß Lenin nie den Versuch unternahm, die Gesamtheit der so charakterisierten Verhältnisse als ‚sozialistisch‘ zu bezeichnen, nur weil das Proletariat die politische Macht erobert hatte. Die Kennzeichnung der Sowjetrepublik als ‚sozialistisch‘ bedeutete für Lenin vielmehr nur die Entschlossenheit der Sowjetmacht, den ‚Übergang zum Sozialismus‘ zu verwirklichen, keineswegs aber, daß die neuen ökonomischen Zustände als sozialistisch bezeichnet werden“.[9]KH 10, S. 60

Die Betonung der „reinen“ politischen Macht bei Schneider ergibt einerseits ein Herunterspielen der Verstaatlichung an den Produktionsmitteln, andererseits eine Überbewertung der staatskapitalistischen Maßnahmen Lenins. „Für Lenin war mit der Verstaatlichung der wichtigsten Produktionsmittel nicht bereits die ökonomische Basis des Sozialismus gegeben; nach seinem Verständnis waren in dieser Hinsicht noch nicht einmal die Fundamente fertiggestellt worden — das eigentliche Werk der Revolution, die tiefgreifende Umwälzung der noch vom Kapitalismus geprägten Produktionsverhältnisse, hatte kaum erst begonnen“. [10]KH 10, S. 85 Andererseits: „Die Elemente des Staatskapitalismus hatten sich gegenüber 1918 erheblich vermehrt, zu ihnen gehörten jetzt neben den Konzessionen auch die vom Staat an Kapitalisten verpachteten Betriebe und der von Kapitalisten auf Provisionsbasis für den Staat betriebene Handel“.[11]KH 10, S. 87 Dabei unterschlägt Schneider, daß die ausländischen Konzessionen, das zentrale Element des so von Lenin bezeichneten Staatskapitalismus, sich angesichts des imperialistischen Boykotts gar nicht realisieren ließen.

Diese Überbewertung des Staatskapitalismus, der laut ihrem theoretischen Mentor Bettelheim aus einer „Etappe zur Politik“ wurde, über deren sozialistische Entwicklung der Klassenkampf und die Masseninitiative entscheidet, hat eine Funktion für die KPD.[12]siehe Bettelheim, Die Klassenkämpfe in der UdSSR, S. 382-392 Den „Hintergrund der späteren restaurativen Entwicklung der Sowjetunion“ im Kopf, kommt man so der heutigen Charakterisierung der DDR und UdSSR als staatskapitalistisch ein Stück näher; und wir werden später sehen, wie bei Schneider diese Annäherung vollzogen wird.

Eng verzahnt mit der Reorientierung der Wirtschaftspolitik mußte die junge Sowjetmacht auch ihr Verhältnis zu den bestehenden Arbeiterorganisationen neu bestimmen. Im Zusammenhang mit der NEP-Politik wurde das ökonomische Reglement einer grundsätzlichen Änderung unterworfen. Wie bereits erwähnt wurde erst 1918 die Enteignung der Kapitalistenklasse abgeschlossen. Bis zu diesem Zeitpunkt dominierte die Arbeiterkontrolle bzw. die Arbeiterselbstverwaltung, die auf Betriebsebene versuchte, die Produktion in Gang zu halten. Seinen Widerstand gegen eine vorschnelle Enteignung der Bourgeoisie begründete Lenin vor allem mit der Nichtexistenz eines Verwaltungsapparates, der in der Lage gewesen wäre, die Wirtschaft national zu organisieren. Der Ausbruch des Bürgerkrieges, die Sabotage der Kapitalisten, aber auch das Chaos der vereinzelten Fabrikkomitees machte eine umgehende Zentralisierung nötig. Da nur die Gewerkschaften einen zentralen Apparat hatten, wurde ihnen die Organisierung der Produktion anvertraut.

Erst 1921 schuf sich die Arbeiterregierung ihre eigenen staatlichen Wirtschaftsorgane. Ohne direkte staatliche Verantwortung wurden die Gewerkschaften wieder handlungsfrei, die unmittelbaren Interessen der Arbeiterklasse gegen bürokratische Mißbräuche, Übergriffe und Fehlplanungen zu verteidigen.

Wir haben schon das rechte Verständnis der KPD hinsichtlich des prinzipiellen Zugeständnisses demokratischer Rechte gegenüber bürgerlichen Parteien dargestellt. Eindeutig syndikalistisch ist die programmatische Verlängerung der Bürgerkriegsmaßnahmen der KPR durch Koch, die Gewerkschaften oder die Betriebsräte zum Organisator der Produktion zu bestimmen: „Die Zielvorstellung im Programm der Bolschewiki, die gesamte Verwaltung der ganzen Volkswirtschaft in den Händen der Gewerkschaften, der breitesten Organisationen der Arbeiterklasse, zu konzentrieren, erscheint demgegenüber unter den Bedingungen unseres Landes als möglicher und sofort gangbarer Weg, Sicher nicht als der einzig denkbare, denn denkbar wäre auch eine Leitungsstruktur der Wirtschaft, die sich maßgeblich auf die Betriebsräte stützt“.[13]KH 10, S. 18

Die KPD verbindet diese syndikalistische Neuinterpretation der Gewerkschaftsfunktionen in einem Arbeiterstaat mit der jetzt auch unter „Leninisten“ so modisch gewordenen Theorie der Arbeiterselbstverwaltung.[14]siehe KH 10, S. 14 Der lobende Vergleich mit den Vorstellungen der konterrevolutionären Solidarnosc darf da natürlich nicht fehlen.[15]siehe KH 13, S. 97 In der Charakterisierung des auf die kapitalistische Restauration Polens hinauslaufenden Programms von Solidarnosc vom September 1981 schrieben wir: „Dieses Konzept der Arbeiterselbstverwaltung kann nur zur verschärften Konkurrenz der Arbeiter der einen Betriebe gegenüber den anderen, zu Schließungen und Massenarbeitslosigkeit führen, was die ‚katholischen Intellektuellen‘ durchaus einkalkulierten …“.[16]Gruppe IV. Internationale, Zuerst das Programm, S. 9 Zwar noch im Rahmen der Diktatur des Proletariats verbleibend, zeigt auch das jugoslawische Modell der Arbeiterselbstverwaltung die negativen Folgen für die Arbeiterklasse. Mit der verstärkten Öffnung gegenüber dem Imperialismus droht die bürokratisch kommandierte Selbstverwaltung der vollkommen zerrütteten Wirtschaft Jugoslawiens entlang nationaler Antagonismen auseinanderzufallen.

Marx, Engels und Lenin sahen keinen Widerspruch zwischen der Anwendung des schärfsten Zentralismus durch die proletarische Staatsmacht (basierend auf jederzeit abwählbaren Sowjets) und der Wahrung und Entfaltung einer „millionenfachen“ Demokratie durch die Massen. So treten wir für einen zentralen Wirtschaftsplan einer staatlichen Planungsbehörde ein, der die Ressourcen eines Landes systematisch zu seinem Aufbau zusammenfaßt. Ein Wirtschaftsplan eines revolutionären Arbeiterstaates kann nicht Ausdruck der unmittelbaren Interessen des Proletariats sein, sondern muß diese verbinden mit langfristigen Planzielen. Nach erfolgter internationaler Revolution gilt es, die systematische Förderung der vom Imperialismus unterentwickelt gehaltenen Länder zu organisieren, so daß der nationale Plan zu einem untergeordneten Bestandteil des internationalen wird.

Funktionieren kann er allerdings nur, wenn er erfaßbar und durchschaubar bis in den letzten Betrieb hinein diskutiert, konkretisiert und korrigiert wurde. Seine Effizienz steht und fällt mit der Arbeiterdemokratie. Gewerkschaften als Organisationsform zur Verteidigung der unmittelbaren Interessen der Arbeiterklasse können alleine diesen allgemeinen Anforderungen an einen Plan nicht gerecht werden. Wir meinen vielmehr, daß Lenin 1921 in der Gewerkschaftsdebatte der KPR die Funktion der Gewerkschaften in einem Arbeiterstaat modellhaft als ein Element bei der Verbindung von kurz- und langfristigen Zielen des Proletariats umschrieb, indem er sie als Transmissionsriemen der Räteherrschaft charakterisierte.

Vor diesem Hintergrund muß man die KPD-Analyse der Arbeiteropposition von 1921 sehen. In Anbetracht leerer Fabrikhallen und der Stadtflucht, Hunger unvorstellbaren Ausmaßes, der Gefahr eines Wirtschaftskollaps‘ war die Forderung der Arbeiteropposition nach Leitung der Betriebe durch gewählte Komitees unter Kontrolle der Gewerkschaften nichts weiter als syndikalistische Demagogie. Lenin verurteilte diese rechte Abweichung, während die KPD diese als „links“ einzuordnen scheint. Die KPD- Sympathien für diese syndikalistische Opposition sind nur zu verständlich, reduziert sich ihre Verteidigung des Leninschen Zentralismus doch auf die „Besonderheiten“ der russischen Revolution.

Wichtig ist es jedoch nachzuvollziehen, wie Lenin die berechtigte Kritik der Arbeiteropposition an der wachsenden Bürokratisierung des Sowjetregimes in seine Politik zu integrieren versuchte.

Nicht erst seit 1921 stellte sich das Problem der bürokratischen Deformation der Revolution. Das zahlenmäßig schwache russische Proletariat von 1917 war fast vollständig im Bürgerkrieg aufgerieben worden, wichtige Teile angesichts der neuen Aufgaben in Staatsapparat und Partei absorbiert. Durch die Niederschlagung der Revolution in Europa isoliert, gefangen in der russischen Rückständigkeit und zermürbt durch den Bürgerkrieg entwickelte sich in der erschöpften revolutionären Sowjetrepublik eine Bürokratie, deren Kontrolle durch die Arbeitermassen nicht mehr gewährleistet war. Diese unvorhergesehene Entwicklung war Ausdruck der historischen Sackgasse, in die die russische Revolution geraten war. Auf diese schleichende Entartung des Partei- und Staatsapparates richtete sich die Aufmerksamkeit Lenins in seinen letzten Kämpfen.

Nun bemüht sich die KPD, ihre Theorie der „neuen Bourgeoisie“ mit Lenin zu autorisieren. So folgert Genosse Koch mit der ihm eigenen „Wissenschaftlichkeit“: „Auch ohne eine detaillierte Analyse der historischen Entwicklung kann gesagt werden, daß der ebenfalls schon von Lenin festgestellte Prozeß der Herausbildung einer neuen Bourgeoisie aus den Reihen der Angestellten des Partei- und Staatsapparates die ausschlaggebende soziale Grundlage der Gegenrevolution war, daß ihre politische Form die ‚friedliche‘ Eroberung des Partei- und Staatsapparates durch eben diese neuen bürgerlichen Elemente war“.[17]KH 10, S. 21 Methode ist auch hier wieder die bloße Behauptung, um darauf zu hoffen, daß niemand die brüchige Ausgangslage erkennt. So ergänzt Genosse Schneider: „Daneben wirkt aber mit den ‚bürokratischen Auswüchsen‘ immer mehr ein anderes, den gesamten Existenzbedingungen der Arbeitermacht vollständig entgegengesetztes Element(!) innerhalb des Staates selbst, ein Element, das Lenin — wie wir oben gesehen haben — der ‚neuen Bourgeoisie‘ zurechnete“.[18]KH 10, S. 96 Und was sehen wir oben? „Genosse Rykow, der auf wirtschaftlichem Gebiet die Tatsachen sehr gut kennt, sprach von der neuen Bourgeoisie, die es bei uns gibt. Das stimmt. Sie entsteht nicht nur aus den Reihen unserer Sowjetangestellten — in geringfügigem Maße kann sie auch von dort kommen — sie entsteht aus der Mitte der Bauernschaft und der Kleingewerbetreibenden, die vom Joch der kapitalistischen Banken befreit und heute vom Eisenbahnverkehr abgeschnitten sind. Das ist eine Tatsache … Sie zeigt uns, daß selbst in Rußland die kapitalistische Warenwirtschaft lebt, funktioniert, sich entwickelt und eine Bourgeoisie hervorbringt, wie auch in jeder kapitalistischen Gesellschaft“(Lenin).[19]zit. nach: KH 10, S. 65 Dies ist der einzige „Beweis“, der einzige Versuch bei Schneider, aus den Schriften Lenins die KPD-Theorie der „neuen Bourgeoisie“ herzuleiten! „In geringfügigem Maße“ — vor allem aus der Mitte der Bauernschaft und der Kleingewerbetreibenden — schreibt Lenin! Schneider verdreht erst den Sinn der Aussage, unterschlägt die materialistische Analyse der „alten“ Bourgeoisie, um diese dann im Laufe seiner Darlegungen ganz wegfallen zu lassen — und fertig ist die Theorie Lenins: Bürokratie gleich Bourgeoisie! So „folgert“ Schneider: „Bemerkenswert ist die Aussage deshalb, weil Lenin hier nicht nur (!) die privat betriebene Kleinproduktion als Quelle einer neuen Bourgeoisie ansieht, sondern davon ausgeht, daß sich Elemente einer solchen Bourgeoisie auch (!) innerhalb der Sowjetapparate ausbilden können“.[20]KH 10, 5. 65f Sauber! Aus diesem „auch“ wird dann in der KPD-Diktion — wie wir oben gesehen haben — die „ausschlaggebende soziale Grundlage“. Wir wollen gar nicht bestreiten, daß sich Staats- und Parteibürokratie an ihren Rändern mit der Bourgeoisie überlappen können, daß z.B. die Dorfsowjets Ende der 20er Jahre in der UdSSR teilweise unter direkter Führung der Kulaken standen. Partei wie Staatsapparat, inklusive ihrer bürokratischen Geschwüre, fußen jedoch zentral auf dem Proletariat, dessen Produktionsform sich im Sektor der verstaatlichten Produktionsmittel manifestiert! Die „Bourgeoisie“ — Bauern, kleine Handwerker — gründen ihre Existenz jedoch auf die kleine Warenproduktion, deren innere Logik sich gegen die sozialistischen Eigentumsformen richtet. Deshalb gibt es zwischen der Bürokratie eines Arbeiterstaates und der Bourgeoisie einen Klassengegensatz, dessen Ursprung in unterschiedlichen Produktionsweisen liegt. So bemerkte Lenin in der Gewerkschaftsdebatte 1920/1921 gegen Trotzki und Bucharin recht treffend: „Aus unserem Parteiprogramm — einem Dokument, das dem Verfasser des ‚ABC des Kommunismus‘ sehr gut bekannt ist -, aus diesem Programm ist bereits ersichtlich, daß unser Staat ein Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen ist. Ja, mit diesem traurigen — wie soll ich mich ausdrücken? — Etikett mußten wir ihn versehen. Da haben Sie die Realität des Übergangs“.[21]Lenin, AW Bd. VI, S. 55

Der Kampf gegen diese bürokratischen Auswüchse bestimmte die letzte Periode seines politischen Wirkens. Die Etablierung der Arbeiter- und Bauerninspektion symbolisierte den (vergeblichen) Versuch, die zunehmende Bürokratisierung in den Griff zu bekommen. Die Auseinandersetzung um das großrussische, chauvinistische Vorgehen Stalins in der Georgienfrage brachte Lenin dann in frontalen Gegensatz zu den restaurativen Tendenzen in der Partei.

Vor dem Hintergrund der deutschen Niederlage und der Wirtschaftskrise in der UdSSR polarisierte sich die Partei endgültig. Die sich herausbildende Linke Opposition forderte die sofortige Einführung einer zentralen Planwirtschaft, die Stärkung der Staatsindustrie auf Kosten der oberen Schichten der Bauernschaft, die sich durch die NEP bereicherten. Sie verband dieses Programm mit der Forderung nach Reetablierung der Parteidemokratie als ersten Schritt zur Wiederbelebung der Arbeiterdemokratie. Dabei traf sie auf einen immer bewußteren und entschlosseneren Widerstand des Triumvirats Stalin, Kamenjew und Sinowjew und der von Stalin berufenen Sekretärsphalanx, dem organisatorischen Rückgrat der KP. Deren Politik bestand im wesentlichen in der Verteidigung der bisherigen Zustände; eine Änderung in der Haltung gegenüber den Kulaken oder eine demokratische Öffnung der Partei werteten sie zurecht als Angriff auf ihre immer selbständigere Stellung in der Partei. Nach dem 12. Parteitag wuchs die Entschlossenheit der Bürokratenfraktion, mit der Organisierung der „Trotzkismus-Kampagne“ die Linke Opposition endgültig auszuschalten (13. Parteitag) und ihre Kontrolle über die Partei zu festigen.

Dieser „neuen“ Arbeiterbürokratie, alles andere als Repräsentanten einer Bourgeoisie, war es gelungen — unter Ausnutzen der notwendigen Demokratieeinschränkungen der vergangenen Jahre — die Macht in der Partei zu usurpieren. Mit der Zerschlagung der Linken Opposition starb auch gleichzeitig die Möglichkeit, durch die Partei selbst die Arbeiterklasse in ihre Positionen von 1917 wieder zurückzuführen. Als Ausdruck der Ebbe der Revolution, der Erschöpfung der russischen Massen inmitten kultureller Rückständigkeit vor dem Hintergrund internationaler Niederlagen vertritt diese bürokratische Kaste auf den Grundlagen der Diktatur des Proletariats nun eigenständige, parasitäre Interessen. Die Eliminierung dieser bürokratischen Herrschaft, die Aufhebung der politischen Unterdrückung der Arbeiterklasse durch die Wiederherstellung der Arbeiterdemokratie erfordert ihren Sturz durch die politische Revolution.

Nach der gerafften Darstellung einiger Aspekte der russischen Revolution und ihrer Degeneration ist es notwendig, die trotzkistische Analyse der „russischen Frage“ durch die Kritik der aktuellen UdSSR-Einschätzung seitens der maoistischen Fakultät zu vervollständigen.



Die Theorien von KPD und BWK zur Einschätzung der Sowjetunion



A. Die marxistische politökonomische Analyse und ihre Anwendung auf die deformierten Arbeiterstaaten

Die stalinistische Theorie vom Sozialismus in einem Land bildet für BWK und KPD den gemeinsamen Hintergrund, in der Sowjetunion und DDR eine „Klasse der werktätigen Intelligenz“ (BWK) oder eine „neue Bourgeoisie“ (KPD) an der Macht zu sehen.

Nun hat sich kürzlich die KPD bemüht, ihre These des Staatskapitalismus mit einer polit-ökonomischen Analyse der DDR zu untermauern (D, Schneider, Zum Ökonomischen System der DDR), mit der wir die Auseinandersetzung beginnen wollen. Voraussetzung unserer Kritik ist hierbei die Annahme der qualitativen Gleichheit der Ökonomie von DDR und Sowjetunion — zumal auch unsere politischen Gegner nichts Gegenteiliges behaupten.

„Ebensowenig wie Staatseigentum mit gesellschaftlicher Aneignung gleichgesetzt werden kann, bedeutet es an sich schon Aufhebung des Privateigentums. Denn Privateigentum ist nicht dadurch charakterisiert, daß es das Eigentum einzelner ist, sondern durch die ‚Verfügung über fremde Arbeitskraft‘. Insofern bleibt oder wird Staatseigentum dann Privateigentum, wenn es einer besonderen Gruppe von Menschen dazu dient, über die Arbeitskraft anderer zu verfügen und sich die Produkte fremder Arbeit anzueignen“.[1]Schneider, Zum ökonomischen System der DDR, S. 33 f (im folgenden: Schneider) Diese Aussage Schneiders stellt einen wesentlichen Ausgangspunkt seiner Theorie vom Staatskapitalismus in der DDR dar.

Marx ging es um die Analyse des kapitalistischen Privateigentums der bürgerlichen Produktionsweise. Schneider selbst zitiert Marx' Eigentumsbegriff, nämlich „gesellschaftliche Beziehungen, deren Gesamtheit (!) das bildet, was man heute das Eigentum nennt: außerhalb dieser Beziehungen ist das bürgerliche Eigentum nichts als eine metaphysische oder juristische Illusion“.[2]Marx, Brief an Annenkow vom 20.12.1846, MEW 27, S. 456 Marx analysierte als einen Aspekt des Privateigentums die Verfügung über fremde Arbeitskraft, während Schneider diese als Ursache kapitalistischer Produktion schlechthin unterstellt.

Die Marxsche Definition des Kapitalismus als System der verallgemeinerten Warenproduktion, das mit dem Privateigentum an Produktionsmitteln verknüpft ist und dieses voraussetzt, ist eine andere: Es sind „zwei Charakterzüge, welche die kapitalistische Produktionsweise von vornherein auszeichnen. Erstens. Sie produziert ihre Produkte als Waren. Waren zu produzieren, unterscheidet sie nicht von anderen Produktionsweisen; wohl aber dies, daß Ware zu sein, der beherrschende und bestimmende Charakter ihres Produkts ist“. Dies schließt das Auftreten der Arbeit als freie Lohnarbeit mit ein und nach Marx ergibt sich aus den „Charakteren des Produkts als Ware, oder Ware als kapitalistisch produzierte Ware, die ganze Wertbestimmung und die Regelung der Gesamtproduktion durch den Wert. In dieser ganz spezifischen Form des Werts gilt die Arbeit einerseits nur als gesellschaftliche Arbeit; andrerseits ist die Verteilung dieser gesellschaftlichen Arbeit und die wechselseitige Ergänzung, der Stoffwechsel ihrer Produkte, die Unterordnung unter und Einschiebung in das gesellschaftliche Triebwerk, dem zufälligen, sich wechselseitig aufhebenden Treiben der einzelnen kapitalistischen Produzenten überlassen … Das zweite, was die kapitalistische Produktionsweise speziell auszeichnet, ist die Produktion des Mehrwerts als direkter Zweck und bestimmendes Motiv der Produktion. Das Kapital produziert wesentlich Kapital, und es tut dies nur, soweit es Mehrwert produziert“.[3]Marx, Das Kapital III, MEW 25, S. 886-888 Der Begriff des Werts, die Regelung der Gesamtproduktion durch den Wert schließt den Begriff der Konkurrenz ein: „Begrifflich ist die Konkurrenz nichts als die innre Natur des Kapitals, seine wesentliche Bestimmung, erscheinend und realisiert als Wechselwirkung der vielen Kapitalien aufeinander … und seine Selbstbestimmung erscheint daher als Wechselwirkung derselben aufeinander“.[4]Marx, Grundrisse, S. 317 „Da der Wert die Grundlage des Kapitals bildet, es also notwendig nur durch Austausch gegen Gegenwert existiert, stößt es sich notwendig von sich selbst ab. Ein Universalkapital, ohne fremde Kapitalien sich gegenüber, mit denen es austauscht — und von dem jetzigen Standpunkt aus hat es nichts sich gegenüber als Lohnarbeit oder sich selbst -, ist daher ein Unding. Die Repulsion der Kapitalien voneinander liegt schon in ihm als realisiertem Tauschwert“.[5]ebenda, S.324, Fußnote Dieses „Unding“ tischt uns Schneider auf als neue Existenzform des Kapitalismus mit dem Staat als kollektiv herrschender Ausbeuterklasse: „Die Herrschaft dieser Klasse beruht nicht auf dem Eigentum einzelner, aber — wie oben festgestellt wurde — auf dem Privateigentum, insofern es Verfügung über fremde Arbeit darstellt. Da diese Verfügung die Form der Abpressung und Aneignung von Mehrwert annimmt, handeln die einzelnen Mitglieder dieser Klasse und sind sie Agenten des gesellschaftlichen Kapitals“.[6]Schneider, S. 136

Seine unterstellte Identität von Staats- und Privateigentum ist jene idealistische Auffassung der bürgerlichen Gesellschaft eines Max Stirners, die Marx und Engels bereits vor 140 Jahren theoretisch ad acta gelegt haben.[7]siehe Marx/Engels, Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 338-351

Die Feststellung, daß Privateigentum nicht Eigentum einzelner sein muß, hat eben gar nichts zu tun mit der Tatsache, daß es einzeln nicht existieren kann, sondern vielmehr Privateigentum anderer voraussetzt.

Die Rolle des bürgerlichen Staates als Eigentümer ist die eines funktionellen Kapitalisten unter anderen. Sie ist nicht identisch mit der Staatsfunktion des „ideellen Gesamtkapitalisten“ (Engels), eines gedachten Gesamtkapitalisten, der die politischen Bedingungen der kapitalistischen Konkurrenz und damit die Funktionsweise des Privateigentums insgesamt garantiert.

Marx wies auf die sich in der alten Form entwickelnden Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise hin, die in Aktiengesellschaften einerseits und Kooperativfabriken andererseits ihren Ausdruck fanden. „Die kapitalistische Produktion selbst hat es dahin gebracht, daß die Arbeit der Oberleitung, ganz getrennt vom Kapitaleigentum, auf der Straße herumläuft. Es ist daher nutzlos geworden, daß diese Arbeit der Oberleitung vom Kapitalisten ausgeübt werde“.[8]Marx, Das Kapital III, MEW 25, S. 400 „Das Kapital, das an sich auf gesellschaftlicher Produktionsweise beruht und eine gesellschaftliche Konzentration von Produktionsmitteln und Arbeitskräften voraussetzt, erhält hier direkt die Form von Gesellschaftskapital (Kapital direkt assoziierter Individuen) im Gegensatz zum Kapital, und seine Unternehmungen treten auf als Gesellschaftsunternehmungen im Gegensatz zu Privatunternehmungen. Es ist die Aufhebung des Kapitals als Privateigentum innerhalb der Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise selbst“.[9]ebenda, S. 452

Marx konstatiert hier also die tendenzielle „Aufhebung des Kapitals als Privateigentum“ innerhalb der kapitalistischen Grenzen. Die Grenzen dieser Eigentumsform, die den einzelnen Eigentümer nicht voraussetzt, sondern ausschließt, werden auf dem kapitalistischen Markt gezogen. In der DDR gibt es als ökonomisch herrschende Kategorie weder Privateigentum noch Wertgesetz. Mit der Enteignung der Kapitalistenklasse, der Errichtung des Staatseigentums an den Produktionsmitteln und seiner Absicherung durch das Außenhandelsmonopol wurde hier die materielle Grundlage der Diktatur des Proletariats gelegt. Im Überbau findet sie heute ihre aktuelle (deformierte) Entsprechung in der stalinistischen Arbeiterbürokratie.

Das korrekte marxistische Verständnis von Staatseigentum unter der Bedingung der Diktatur des Proletariats ist entscheidend. Wir haben schon an anderer Stelle gezeigt, wie die KPD den „sozialistischen Sektor“ in der UdSSR unter Lenin sträflichst vernachlässigte. In ihrer Einschätzung der DDR knüpft sie wieder an die Thesen des maoistischen Ökonomen Charles Bettelheim an. Dessen Theorie stellt die eigentliche Klammer zum Verständnis des Schneiderschen Elaborats dar: „Bettelheim hob hervor, daß ‚heute unter dem Deckmantel des Staatseigentums in der Sowjetunion Ausbeutungsverhältnisse bestehen, die denen in anderen kapitalistischen Ländern so ähnlich sind, daß lediglich die Existenzform dieser Verhältnisse einen besonderen Charakter annimmt. Dieser Charakter ist genau der des Staatskapitalismus; und seit Engels weiß man, daß dieser nichts anderes ist als der „auf die Spitze getriebene Kapitalismus“ ‘ “.[10]Schneider, S. 8

Seit Engels weiß man mehr; denn hätten Bettelheim und Schneider statt zu pfuschen hier Engels weiter zitiert, hätte dieser ihren Lesern folgendes mitgeteilt: „Aber auf der Spitze schlägt es um. Das Staatseigentum an den Produktivkräften ist nicht die Lösung des Konflikts, aber es birgt in sich das formelle Mittel, die Handhabe der Lösung“.[11]Engels, Anti-Dühring, MEW 20, S. 260

Schneider selbst greift diesen Begriff der „Handhabe der Lösung“ zwar auf, und die KPD sieht pro forma im Staatseigentum die „notwendigen Voraussetzungen und erste Schritte, damit die Wirtschaft den gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechend umgestaltet werden kann“.[12]Programmentwurf der KPD, zit. nach: Die Vereinigungsverhandlungen …, S. 10 Jedoch geschieht dies nur, um das Staatseigentum herunterzuspielen: „Engels spricht zwar … davon, daß die Arbeiterklasse nach ihrer politischen Machtergreifung die Produktionsmittel ‚zunächst in Staatseigentum‘ verwandeln wird, er begreift aber das Staatseigentum ganz eindeutig als einen Durchgangspunkt zu einer realen Vergesellschaftung“.[13]Schneider, S. 33

Selbstverständlich ist Staatseigentum nicht der Produktionsgeschichte letzter Schluß, es ist vielmehr die Voraussetzung zur Vergesellschaftung der Produktion im Sozialismus und damit Voraussetzung zum Absterben des Staates. Dieser Prozeß der Vergesellschaftung muß aber mit der Enteignung der Kapitalistenklasse, dem Staatseigentum beginnen.

Dieses trennt weder die Diktatur des Proletariats vom Sozialismus durch eine Chinesische Mauer, noch umfaßt es sämtliche Bereiche der gesellschaftlichen Produktion. Durch „Zusammenfassung“ der zur Enteignung „reifen“ Produktionsmittel, vor allem der Großindustrie, organisiert das Proletariat den ökonomischen Kampf mit der kleinen Warenproduktion, hält den aus den Poren der Gesellschaft sich noch entwickelnden Kapitalismus in Schach. Diese ökonomische Entwicklung muß garantiert werden, durch die politische Unterdrückung der bisherigen Ausbeuterklassen. Der Staat wird zu einer politischen Waffe im Kampf der ökonomischen Emanzipation der Arbeiterklasse in Richtung Sozialismus. „Oder warum“, fragt Engels, „kämpfen wir denn um die politische Diktatur des Proletariats, wenn die politische Macht ökonomisch ohnmächtig ist? Die Gewalt (d. h. die Staatsmacht) ist auch eine ökonomische Potenz!“.[14]Engels, Brief an Schmidt vom 27.10.1890, MEW 37, S. 493

Die Stalinisten müssen mit ihrer Theorie vom Sozialismus in einem Lande die marxistische Charakterisierung des Staatseigentums zurückweisen, da sie die Entfaltung der Produktivkräfte unter der Diktatur des Proletariats nicht als Vorbedingung des Sozialismus verstehen. Die Maoisten trachten danach, die Klassenscheidung der Gesellschaft vielmehr mittels der „Kulturrevolutionierung“ der Arbeiter (und Bauern), mit „neuer Qualität der Arbeit“ etc. voluntaristisch aufzuheben.

So bleibt für Bettelheim und Schneider Staatseigentum per se — auch nach der Revolution — Quelle der kapitalistischen Restauration. Es muß mit dem Streben nach Vergesellschaftung auf einen Schlag bekämpft werden, deren Garantie wiederum im Überbau gesucht wird.

Staatseigentum bedeutet dagegen Beginn der Vergesellschaftung der Produktion, drückt aber durch seine Form noch die historische Nähe zur überwundenen kapitalistischen Produktionsweise aus. Der Hinweis auf die „bürgerliche“ Form, um damit den kapitalistischen Charakter des Staates wie der ökonomischen Verhältnisse in der DDR und Sowjetunion zu „beweisen“, ist ein alter Trick der maoistischen Politökonomie. So unterschiebt sie aus der noch bestehenden Warenform in einigen Bereichen der Arbeiterstaaten Warenproduktion schlechthin. Da wird aus den existierenden Märkten ein allgemein herrschendes Wertgesetz abgeleitet, aus der Lohnform ein kapitalistisches Lohnarbeitsverhältnis, aus der Produktion des Mehrprodukts — Mehrwertproduktion usw. Immer wird die Ökonomie der Sowjetunion oder DDR an den Grundlagen des Sozialismus gemessen, während die Moskauer Schule der Stalinisten sich abrackert, ein sozialistisches Wertgesetz, sozialistische Lohnform etc. durch Marx herzuleiten. Ein Streit unter Blinden über die Farbe, dessen Ursache in der Theorie vom Sozialismus in einem Lande zu suchen ist!

Warenproduktion und Sozialismus schließen sich aus. Wenn sich in einer Ware ihr Gebrauchs- als auch ihr Tauschwert realisiert, so fällt mit der Vergesellschaftung der Produktionsmittel die Produktion für den Markt, die Produktion des Tauschwerts und damit die Warenproduktion fort. „In der Wertform der Produkte steckt … bereits im heim die ganze kapitalistische Produktionsform, der Gegensatz von Kapitalisten und Lohnarbeitern …“, kommentiert Engels im Anti-Dühring. „Die kapitalistische Produktionsform abschaffen wollen durch Herstellung des ‚wahren Werts‘, heißt daher den Katholizismus abschaffen wollen durch die Herstellung des ‚wahren‘ Papstes oder eine Gesellschaft, in der die Produzenten endlich einmal ihr Produkt beherrschen, herstellen durch konsequente Durchführung einer ökonomischen Kategorie, die der umfassendste Ausdruck der Knechtung der Produzenten durch ihr eignes Produkt ist“.[15]Engels, Anti-Dühring, MEW 20, S. 289

So führt Schneider zurecht Marx und Engels an, um den Gegensatz von Waren- und vergesellschafteter Produktion nachzuweisen — wobei er ihnen dann jedoch selbst widerspricht: „Als Engels davon ausging, die Menschen einer künftigen sozialistischen Gesellschaft würden ihre Produktionsprozesse ‚sehr einfach‘ ohne das Dazwischentreten des vielberühmten ‚Werts‘ regeln, hatte er sich gründlich geirrt. Denn weder in der Sowjetunion, noch in den Ländern, die ihr auf dem Weg der Oktoberrevolution nachfolgten, leitete die politischen und ökonomische Entmachtung der Bourgeoisie auch eine Aufhebung der Warenproduktion (und damit des Werts und des Wertgesetzes) ein“.[16]Schneider, S. 22 f Der Grund für Schneiders Konfusion über Engels ist darin zu suchen, daß er nicht weiß, wie er die politökonomischen Kategorien auf die Übergangsgesellschaft der Diktatur des Proletariats anwenden soll.

Herrscht denn nun in den bürokratisch deformierten Arbeiterstaaten Warenproduktion? Die Diktatur des Proletariats basiert auf dem Staatseigentum, aber keineswegs auf einer Vergesellschaftung der Produktion (die ja gerade ein Absterben des Staates voraussetzt). So muß man die schon von Marx vor allem in der Kritik des Gothaer Programms konstatierten „Muttermale der alten Gesellschaft“ in Betracht ziehen. Die Warenform in einigen Bereichen der Ökonomie existiert, jedoch kann man aus ihr nicht auf eine verallgemeinerte Warenproduktion als die die Ökonomie beherrschende Kategorie schließen, da das Wertgesetz, das „blindwirkende Durchschnittsgesetz der Regellosigkeit“ (Marx), außer Kraft gesetzt wurde. Das Wertgesetz, das den Warenaustausch in Form des Warenpreises auf dem Markt einschließt, stellt im Kapitalismus die Durchschnittsprofitrate her und ist Motor der Wanderung des Kapitals nach profitablen, Mehrwert heckenden Anlagemöglichkeiten. Es durchdringt vollkommen den Prozeß der Produktion und Reproduktion, während in den deformierten Arbeiterstaaten ein Markt in dem Sinne, daß erst hinter dem Rücken der Produzenten die Nützlichkeit ihrer Tätigkeit festgestellt wird, nicht existiert. Hiermit ist noch nicht gesagt, ob etwas hinter dem Rücken der Produzenten stattfindet oder über die Nützlichkeit der Produktion im einzelnen. Entscheidend ist jedoch, daß der Plan und nicht der Markt die Produktion bestimmt, bzw. existierende Märkte nur marginale Bedeutung haben. Die Planwirtschaft produziert Gebrauchswerte, inklusive eines Mehrprodukts und ist somit der Produktionsweise des Kapitals als „Fanatiker der Verwertung“, der Produktion von Tauschwerten, direkt entgegengesetzt.

Nun soll bei Schneider vor allem der Arbeitsmarkt als Beweis für die kapitalistische Ausbeutung der Ware Arbeitskraft herhalten und so konzentriert er sich in seiner Analyse der DDR auf die Kritik der Lohnform. Marx und Engels wiesen auf die Notwendigkeit differenzierter Löhne als Merkmal des Übergangs zum Sozialismus hin: Erst wenn die Arbeit einen unbedeutenden Teil an Zeit und Energie in Anspruch nehmen wird, wird sie der einzelne freiwillig der Gesellschaft schenken. Alternativ zum Lohnsystem unter der Diktatur des Proletariats steht nur die Arbeitsverteilung durch staatlichen Zwang, die Militarisierung der Arbeit.

Gleichzeitig gilt unter der Voraussetzung der bestmöglichsten Lohnstruktur die Norm, daß ein Markt der leistungsfähigste Mechanismus zur Anpassung von Mangelkonsumgütern und Dienstleistungen an die individuellen Bedürfnisse ist — auch hier wäre nur die sozialisierte Verteilung des Mangels die mögliche Alternative.

Beide Optionen, Militarisierung der Arbeit und Verteilung des Mangels, wurden von der chinesischen stalinistischen Bürokratie mit der Kulturrevolution in die Tat umgesetzt und als Sozialismus verkauft. Diese Praxis und die sie begleitende Theorie der „ideologischen Revolutionierung“ wird von der KPD heute nicht mehr offensiv propagiert. Schneider mißt vielmehr ohne direkte Bezugnahme auf die Kulturrevolution die existierende Lohnform in den deformierten Arbeiterstaaten an der sozialistischen Elle Aufhebung von Hand- und Kopfarbeit; Arbeit sollte von einer Last zur Lust werden. Die Arbeit in der DDR ist nicht nur keine Lust, sie hat sogar für die Arbeiter „nur insofern Interesse, als sie Mittel zum Leben ist“.[17]ebenda, S. 106 Darüberhinaus entdeckt er, daß „die in der DDR bestehende Vollbeschäftigung und das gesetzlich fixierte Recht auf Arbeit nicht gegen die Existenz von Lohnarbeit und der Arbeitskraft als Ware (sprechen), sie beeinflußen nur deren Austauschbedingungen“.[18]ebenda, S. 111

Arbeit ist Mittel zum Leben und wird es auch „vorerst“ bleiben. Die Aufhebung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit sowie die Entfremdung kann nur mittels der Überflüssigmachung körperlicher Arbeit auf einem qualitativ hohen Niveau der Produktivität erfolgen. Entscheidend ist doch vielmehr die der kapitalistischen Entwicklung direkt entgegengesetzte Tendenz auf dem existierenden Arbeitsmarkt: Es gibt keine Massenarbeitslosigkeit, d. h. Vollbeschäftigung „beeinflußt“ nicht die Bedingungen der Lohnarbeit, wie Schneider schreibt, sondern sie ist ein Ergebnis der Austauschbedingungen, deren Grundlage wiederum durch den Plan geregelt ist.

Ein kapitalistisches Lohnarbeitsverhältnis existiert also nicht, da die Lohnform nicht mit dem kapitalistischen Inhalt gefüllt ist. Eine Feststellung, mit der keineswegs die bürokratische Politik der extremen Lohnungleichheit (insbesondere im Verhältnis zu den eigenen Einkünften und Privilegien) und die Spaltung der Arbeiterklasse über Antreibersysteme zu rechtfertigen ist.



B. Die Entwicklung der Staatskapitalismus-Konzeption bei Schneider und Bettelheim

Für Schneider ist „neben dem Staatseigentum der Plan die wesentliche Quelle von Illusionen über die heutigen Gesellschaften des ‚realen Sozialismus‘ “.[1]Schneider, S. 118 f

Den Produktionsagenten folgend, will Schneider das Geheimnis der kapitalistischen Produktion vor Ort erkunden; in dem Abschnitt Der Betrieb als Ort der Mehrwertproduktion sucht man jedoch vergeblich nach einer genauen Bestimmung kapitalistischer Verhältnisse. Stattdessen finden wir die Bettelheimsche „doppelte Trennung“ in der Struktur der Betriebe, nämlich die Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln und die Trennung der Betriebe untereinander, die „Reproduktion der alten gesellschaftlichen Verhältnisse, der bürgerlichen Verhältnisse auf der Ebene der Unternehmen“.[2]Bettelheim, Ökonomisches Kalkül und Eigentumsformen, S. 154

„Diese doppelte Trennung macht die zentrale Gestalt (!) der kapitalistischen Produktionsweise aus, sie bildet das Gerüst für sämtliche Widersprüche dieser Produktionsweise, insofern als diese Widersprüche dem ‚privaten‘ Charakter des Eigentums bzw. des Besitzes den gesellschaftlichen Charakter der Produktivkräfte gegenüberstellen. Der Staatskapitalismus und die Verstaatlichung bilden nur formale Mittel, um diese Widersprüche zu ‚überwinden‘, d. h. in Wirklichkeit, um deren Auswirkungen räumlich zu verschieben“, zitiert Schneider zustimmend Bettelheim.[3]Schneider, S. 117

Hier haben wir den angeblichen Schlüssel zur Klassenbildung in der DDR vor uns. Ein anderer Vertreter der Staatskapitalismus-These, P. Cardan (Castoriadis), spricht klarer aus, was gemeint ist: „Der wirkliche Inhalt von Klassenbeziehungen liegt in der antagonistischen Unterscheidung derer, die an der Produktion teilnehmen, in zwei feste und dauerhafte Kategorien: Solche, die Befehle geben und solche, die sie ausführen … mit dieser Unterscheidung nimmt die Teilung der Gesellschaft in Klassen konkrete Form an“.[4]zit. nach Kemp, Class, cast and state in the Soviet Union, in: What is revolutionary Leadership, S. 47 Das ist der wirkliche Gehalt der „doppelten Trennung“, die an sich keineswegs Merkmal der kapitalistischen Produktionsweise ist.

Die zitierte Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln ist nur ein anderer Ausdruck für Verfügung über fremde Arbeitskraft, welche die KPD als entscheidendes Kriterium der kapitalistischen Produktionsweise ausgab. Durch die konstatierte Trennung der Betriebe untereinander soll wieder ein an Konkurrenz erinnerndes Moment eingeführt werden. Dieses besteht laut Schneider selbst zwischen dem Betrieb als Besitzer und dem Staat als Eigentümer der Produktionsmittel, da „der Betrieb nicht eine Abteilung innerhalb eines einheitlichen staatlichen Produktionsorganismus“ sei.[5]Schneider, S. 116

Konsequenterweise müßte er hier — wo Besitz und Eigentum auseinanderfallen und sich auf Betriebsebene kapitalistische Verhältnisse durchsetzen — einen Klassenantagonismus festmachen. Er konstatiert aber lediglich ein „widersprüchliches“ Verhältnis zwischen Angehörigen ein- und derselben Klasse.

Wieso? Es muß etwas geschehen sein, wovon Schneider uns keine Mitteilung gemacht hat. Er selbst geht nämlich aus von einer „gewissen Trennung“ unter der Diktatur des Proletariats. Am Anfang seiner Untersuchung stellt er nämlich fest, daß bei Staatseigentum „immer eine gewisse Trennung der Produzenten von den Produktionsmitteln gegeben (ist), weil nicht die Gesellschaft selbst (oder die Arbeiterklasse), sondern der Staat für die Gesellschaft den Produktionsprozeß leitet und organisiert“.[6]ebenda, S. 33

Da dies in der DDR aber nicht der Fall ist, muß ein Klassenkampf schon stattgefunden haben, der den Staatskapitalismus in eine bürgerliche Produktionsweise verwandelte. Wie schon erwähnt, kann ja Staatskapitalismus bei Bettelheim sowohl die Gesamtheit der Warenverhältnisse innerhalb der Diktatur des Proletariats bedeuten, als auch eine eigene, bürgerliche Produktionsweise mit der Klassenherrschaft einer Staatsbourgeoisie. Entscheidend für den Klassencharakter dieses gegebenen Staatskapitalismus ist der Stand der „politischen und ideologischen Verhältnisse“. Gerade angesichts des leuchtenden Vorbilds China stellte Bettelheim fest, „daß die sozialistische Umgestaltung des Überbaus die Entwicklung der Produktivkräfte begleiten muß, und daß diese Umgestaltung(!) den wirklich sozialistischen Charakter der ökonomischen Entwicklung bedingt“.[7]Bettelheim, Die Klassenkämpfe in der UdSSR, Vorwort, S. 45

Diese Sozialismusdefinition, Fortentwicklung der Theorie vom Sozialismus in einem Land, ist Ausdruck eines Idealismus, dessen Sozialismus aus dem Kopf kommt, anstatt sich auf materieller Grundlage gesellschaftlich zu entwickeln.

So kann für Bettelheim und Schneider der Plan Auskunft über den kapitalistischen oder sozialistischen Charakter eines Staates geben. Fiat man den Plan erst einmal als eine Beigabe der sowieso existenten kapitalistischen Produktion interpretiert, so ist es nur noch logisch für Schneider, daß „Ableitungen bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse aus der bloßen Existenz von Planwirtschaft natürlich in der Analyse dieser Verhältnisse nicht weiter (führen). Statt den Plan abstrakt als Prinzip anzusehen, ist vielmehr konkret danach zu fragen, wie der Plan entsteht (wer in welcher Form an seiner Erstellung beteiligt ist) und was der Plan inhaltlich zum Ausdruck bringt … Soll der Plan tatsächlich einer anderen Logik als der des Wertgesetzes folgen, so muß er notwendigerweise ein demokratischer Plan sein, also ein Produkt bewußt getroffener Entscheidungen der gesamten Gesellschaft“.[8]Schneider, S. 120

Ein schlechter, undemokratischer Plan ist also gar kein Plan; angeblich folgt er dem Wertgesetz, was er aber gar nicht kann, da er selbst dessen Aufhebung beinhaltet. Für uns bleibt ein undemokratischer Plan ein undemokratischer Plan, wie ein demokratischer Kapitalismus ein demokratischer Kapitalismus bleibt.

Für Schneider ist neben einem „wirklichen“ Plan und einer „wirklichen“ Demokratie für den Charakter eines Staates die „ideologische Revolutionierung“ der Arbeiter in Produktionskollektiven bestimmend, die auf einer „neuen Qualität der Arbeit“ basieren sollen. Hier wirft er wieder sozialistische Produktionsweise mit der Ökonomik der Diktatur des Proletariats zusammen; Bettelheim dagegen gibt entlang des bekannten maoistischen Schemas „Kampf zweier Linien“ für die Sowjetunion einen Erklärungsversuch: Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse haben sich so entwickelt, „daß die ‚Vertreter‘ der Arbeiter, des Staats und der Partei dahin gelangen, sich eher (!) mit den Leitern der Unternehmen als mit den Arbeitern zu identifizieren“.[9]Bettelheim, Ökonomischer Kalkül …, S. 77 Über diese Identifizierung ist also die Bourgeoisie an die Macht gekommen! Die (idealistische) Klassifizierung eines zu untersuchenden Staates konkretisiert sich für ihn in der Politik der herrschenden Avantgarde: Laut Bettelheim kann nämlich die „doppelte Trennung“ selbst nur teilweise aufgehoben werden, indem die Arbeiter eine „dominierende politische und ideologische Position innehaben, wenigstens durch die Vermittlung einer Avantgarde“. Diese müssen gegen die „Autoritäten der Direktion“ auf Betriebsebene durchgesetzt werden, dann haben wir den „ ‚Staatskapitalismus‘ unter der Herrschaft der Arbeiterklasse“.[10]ebenda, 5.94 Nur wenn diese Avantgarde nicht existiert, hat gerade im Plan die Klasse der Staatsbourgeoisie ihre Wurzeln. Deren wirkliche Stellung hängt also „vom Klassenkampf ab, der der Staatsbourgeoisie erlaubt (oder verwehrt), bestimmte Positionen in den Staatsapparaten einzunehmen und möglicherweise den Klassencharakter des Staats zu verändern“.[11]Bettelheim, Die Klassenkämpfe …, S. 46, Fußnote Eines „der möglichen Ergebnisse dieses Kampfes“, führt Bettelheim an anderer Stelle aus, „ist die Rückkehr der bürgerlichen gesellschaftlichen Kräfte an die Macht, unter Formen, die nicht unmittelbar als bürgerliche erkennbar sind. Das geschieht dann (!), wenn die Repräsentanten dieser Kräfte die Leitung des Staates und der führenden Partei übernehmen. Von diesem Moment an (! ) ist der Klassencharakter des Staates, des Staatseigentums und der Planung nicht mehr proletarisch, sondern bürgerlich“.[12]Bettelheim, Ökonomischer Kalkül …, S. 154

Übersetzt sagt uns Bettelheim etwa folgendes: Eine Staatsbourgeoisie kann sich auf der Basis des Staatskapitalismus zur Klasse entwickeln — sie muß es nicht; sie kann nach ihrer Konstituierung zur Klasse den Klassencharakter eines Staates verändern — sie muß es nicht; entscheidend ist hierbei der Klassenkampf zwischen dem Proletariat und … einer Staatsbourgeoisie, die existiert, ohne bisher Positionen im Staatsapparat innezuhaben. Für einen starken Denker ist einfach alles denkbar!

Wir greifen hingegen den naheliegenden Gedanken auf, wieso dieser Reformismus nicht in die andere Richtung funktionieren soll. Schneider resümiert nämlich, daß die Produktionsweise der DDR „nicht in irgendeiner Gleise als historischer Fortschritt gegenüber dem ‚normalen‘ Typus der kapitalistischen Produktionsweise oder gar als ‚Übergangsgesellschaft‘ gewertet werden“ kann, sondern sich vielmehr die „Notwendigkeit der proletarischen Revolution“ ergibt.[13]Schneider, S. 139 Die materielle Ursache einer sozialen Revolution liegt darin, daß auf gewisser „Stufe ihrer Entwicklung … die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen (geraten) oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten“.[14]Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 13, S. 9

Genau diese Grundlage der sozialen Revolution fehlt aber in der DDR und den anderen deformierten Arbeiterstaaten; und Schneider verrät uns nicht das Geheimnis seiner sozialen Revolution. Er verschweigt uns nicht nur Ursache und Zeitpunkt der kapitalistischen Restauration in der DDR, sondern weicht auch der Beantwortung der Frage aus, wie denn die anstehende „teilweise Aufhebung der Trennung der Produzenten von ihren Produktionsmitteln“, zu bewerkstelligen ist. Wenn letztere den Kern der kapitalistischen Produktionsweise ausmacht, bleibt doch nur die Avantgarde, welche die Trennung aufhebt, und zwar auf den gleichen materiellen Grundlagen von Staatseigentum und Plan. Und wenn die Staatsbourgeoisie den Charakter des Staates friedlich von einem proletarischen in einen bürgerlichen verwandelt hat, spricht in der Konsequenz nichts dagegen, den Staatskapitalismus über die entsprechende „politische und ideologische Dominanz“ der Arbeiterklasse — wieder unter die Diktatur des Proletariats zu subsumieren. Aber das wäre ja gar keine soziale Revolution, sondern die politische Revolution als reformistisches Modell! Eben.



C. Klasse oder Kaste?

Im Gegensatz zur KPD entdeckt der BWK in der Sowjetunion keine kapitalistische Produktionsweise, sondern schätzt die Sowjetunion als historisch fortschrittlichen „Staatssozialismus“ ein. „In der SU gibt es kein Privateigentum an Produktionsmitteln wie in den kapitalistischen Staaten … In der SU herrscht eine Planwirtschaft, die in ihren Zielvorgaben nicht nach einem Maximalprofit ausgerichtet ist, sondern an der Herstellung bestimmter Mengen von Gebrauchswerten in den verschiedenen Produktionsbereichen … Historisch fortschrittlich ist eine solche Form der Herrschaft gegenüber der Kapitalistenklasse, insoweit sie gegen das Prinzip der Profitmaximierung das Prinzip der Maximierung der Produktivität setzt und versucht, dies direkt gesellschaftlich durchzusetzen. Eine Fessel der Produktivkräfte ist diese Herrschaft insoweit sie sich nicht auf die Arbeiterklasse und die Bauern stützt, im Bündnis mit ihnen die direkte Vergesellschaftung der Produktion durchführt und damit die Herrschaft der Produzenten über die Produktion, also den Aufbau des Sozialismus“.[1]Politische Berichte, Sonderausgabe Januar 1983

Für den BWK herrscht in der Sowjetunion eine „Klasse der werktätigen Intelligenz“ auf den materiellen Grundlagen von Staatseigentum und Plan: „Eine Scheidung in Bezug auf das Staatseigentum findet allem Anschein nach nicht zwischen Eigentum und Arbeit, sondern zwischen Hand- und Kopfarbeit statt; zwischen gesellschaftlicher Leitung, Disposition über Produktionsmittel und Arbeit auf dem einen Pol, Arbeit zur Vermehrung des Staatseigentums und Ausschluß von der gesellschaftlichen Leitung auf dem anderen Pol“.[2]Gemeinsame Beilage, 1/1985

Die Trennung von Hand- und Kopfarbeit nimmt also beim BWK dieselbe Schlüsselposition ein, wie bei der KPD die Verfügungsgewalt. Nun ist dieses isolierte Kriterium der Trennung von Hand- und Kopfarbeit aber einerseits allgemeines notwendiges Kriterium von Klassenbildung überhaupt, andererseits im modernen Sinne „sind Teilung der Arbeit und Privateigentum identische Ausdrücke — in dem Einen wird in Beziehung auf die Tätigkeit dasselbe ausgesagt, was in dem Andern in bezug auf das Produkt der Tätigkeit ausgesagt wird“.[3]Marx/Engels, Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 32 Da diese Einschätzung vom BWK nicht geteilt wird, unterstellt er als hinreichende Bedingung, „daß die Trennung von Hand- und Kopfarbeit im Kapitalismus wie im Sozialismus die Basis für Klassenbildung ist“.[4]Gemeinsame Beilage, 30. November 1984 Eine Klasse ist jedoch durch ihre spezifische Stellung in einer ebenfalls spezifischen Produktionsweise — welche Arbeitsteilung miteinschließt — bestimmt.

Darüberhinaus wird die Trennung von Hand- und Kopfarbeit selbst im Sozialismus nicht gänzlich verschwunden sein. So führt Marx aus, daß in „einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem (!) die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist … die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben (kann): Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“ [5]Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 21 Das Bedürfnis der Stalinisten nach Sozialismus in einem Lande sorgt indessen meistens für die einseitige Aufhebung der Kopfarbeit.

So blieben dem BWK nur zwei Schlußfolgerungen aus seiner Einschätzung. Erstens: Die Trennung von Hand- und Kopfarbeit macht den Sozialismus unmöglich — Staatseigentum und Planwirtschaft wären für das Proletariat irrelevant, da sie nur neue Klassenherrschaft und Ausbeutungsverhältnisse hervorbringen. Zweitens: Die neue Klassenherrschaft ist als solche historisch fortschrittlich und der Weg zum Sozialismus verläuft über eine Epoche der „kleinbürgerlichen Planwirtschaft“. Er umgeht diese Schlußfolgerungen durch ein Rekurrieren auf den katastrophalen Voluntarismus der Volkskommunen-Bewegung als auch vor allem der Kulturrevolution, laut BWK der „gewaltigste Versuch, den Widerspruch zwischen Hand- und Kopfarbeit revolutionär zu lösen“.[6]Gemeinsame Beilage, 30. November 1984 Genau hier überschneidet er sich wieder mit der „neuen Qualität der Arbeit“, der KPD-Variante des neo-maoistischen Idealismus.

Die Behauptung des BWK, „begründete Ausführungen“ zum spezifischen Klassencharakter der „werktätigen Intelligenz“ gemacht zu haben, beschränkt sich auf recht dürre Bemerkungen in den Politischen Berichten: „Die Geburt der Volksdemokratien im östlichen Europa ist Ergebnis eines Bündnisses, das mit Arbeitern, Handwerkern, Bauern und wissenschaftlich-technischer Intelligenz die werktätigen Klassen umfaßt, gegen die aneignenden Klassen — die Bourgeoisie und den Großgrundbesitz — gerichtet ist, deren Existenzgrundlage und somit diese Klassen aufhebt … Wir nehmen an, daß nach der Niederwerfung des Hitlerfaschismus im wesentlichen ein Bündnis der werktätigen Klassen unter schwach ausgeprägter Führung der Arbeiterklasse bestanden hat, daß sich auf dem gesellschaftlichen Boden der Aufhebung des Privateigentums die sukzessive Scheidung von Handarbeit und Kopfarbeit fortgesetzt hat, daß nunmehr eine Phase eingetreten ist, in der die werktätige Intelligenz um die Führung in der Gesellschaft kämpft, d. h. ihre Diktatur errichten und/oder festigen will“.[7]Politische Berichte, Sonderausgabe März 1984

Laut BWK haben sich nämlich Schichten der werktätigen Intelligenz, die Chruschtschow zur „Verbesserung der Verwaltung“ herangezogen hat, zur „leitenden und verwaltenden Klasse“ mit eigenen Klasseninteressen konstituiert. Zentral erscheint dem BWK die Unterschätzung dieser Intelligenz selbst in der Kulturrevolution: „In der theoretischen Analyse befand sich Mao in Übereinstimmung mit der marxistisch-leninistischen Doktrin. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, daß die werktätige Intelligenz als soziale Klasse sich sowohl in der Sowjetunion als auch in der VR China erst nach der proletarischen Revolution herauszubilden begann“.[8]Gemeinsame Beilage, 30. November 1984

Wann und wie sich eine Klasse aus der Verwaltung heraus bildet, erfahren wir nicht. Es bleibt bei der „Annahme“ des BWK, die weder Ursprung noch Existenzweise der neuen Klassenherrschaft in der Sowjetunion erklärt.

Der Begriff „Werktätige“ kommt in seiner Undifferenziertheit einer Erklärung um keinen Deut näher, umschließt er doch gerade die verschiedenen Klassen Proletariat und Kleinbürgertum. Auch die „Intelligenz“ ist ein soziologischer und kein Klassenbegriff, unter dem sowohl Elemente der Bourgeoisie, des Kleinbürgertums wie des Proletariats zusammengefaßt werden können. Die ganze Begrifflichkeit des BWK ist so schillernd wie die Facetten des Kleinbürgertums selbst: „Das Kleinbürgertum (ist) durch außerordentliche Mannigfaltigkeit seiner sozialen Natur gekennzeichnet. Nach unten hin fließt es mit dem Proletariat zusammen und geht ins Lumpenproletariat über, nach oben in die kapitalistische Bourgeoisie. Es kann sich auf alte Produktionsformen stützen, sich aber auch auf Grundlage der modernen Industrie rasch entfalten (der neue ‚Mittelstand‘). Kein Wunder, wenn es ideologisch in allen Farben des Regenbogens spielt“.[9]Trotzki, Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen?, S. 144

Das Kleinbürgertum hat keine ihm spezifische Produktionsweise; seine Existenz basiert entweder auf historisch überkommenen, marginal existierenden Produktionsformen oder auf der Anpassung an jeweils herrschende Produktionsweisen. So auch der „neue Mittelstand“, der nicht auf der Grundlage des Eigentums an den Produktionsmitteln agiert, sondern im Gegenteil seine Funktionen im kapitalistischen Verwertungsprozeß „eigentumslos“ wahrnehmen muß. Proletariat und Bourgeoisie bleiben ökonomisch die dominierenden Klassen der bürgerlichen Gesellschaft, denen die verschiedenen Schichten des Kleinbürgertums nach ihren jeweiligen Stellungen im Verwertungsprozeß zugeordnet werden.

Eine Klasse des Kleinbürgertums ist in den deformierten Arbeiterstaaten also deshalb nicht an der Macht, da die politische Herrschaft nicht in einer dem Kleinbürgertum spezifischen Produktionsweise, bzw. Eigentumsform ihre ökonomischen Wurzeln hat, sondern sich vielmehr auf die ökonomischen Grundlagen des proletarischen Staates stützen muß.

Die herrschende Kaste kommt aus den Reihen der Arbeiterklasse, ehemals ergänzt durch „bürgerliche Spezialisten“, die in Partei- und Staatsapparat Karriere machten. Diese Arbeiterbürokratie repräsentiert sozial Schmarotzertum im großen, staatlich organisierten Stil; politisch Bonapartismus, d.h, eine stellvertretende Herrschaft für (und über) das Proletariat auf dessen eigenen sozialen Grundlagen. Im Gegensatz zu allen Klassenherrschaften, die ihre eigenen Grundformen des Eigentums herausgearbeitet haben, nimmt die Bürokratie keinen selbständigen Platz im Produktionsprozeß ein. Vielmehr betreffen ihre Funktionen die politische Technik der proletarischen Klassenherrschaft, wobei die Unabhängigkeit der Bürokratie von der Arbeiterklasse einen sehr hohen Grad erreicht hat.

Im politischen Sinne ist diese Kaste und ihre Politik als kleinbürgerlich zu charakterisieren, d.h, sie schwankt zwischen Proletariat und Bourgeoisie und kann proletarische Interessen mit ihren Methoden nur insofern vertreten, wie sie das Proletariat fürchtet. Trotzki charakterisierte im Übergangsprogramm die Bürokratie: „Die Bürokratisierung des rückständigen und isolierten Arbeiterstaats und die Verwandlung der Bürokratie in eine allmächtige privilegierte Kaste stellen — nicht nur theoretisch, sondern praktisch — die überzeugendste Widerlegung der Theorie vom Sozialismus in einem Lande dar. Das Regime der UdSSR trägt daher ungeheure Widersprüche in sich. Aber noch bleibt sie ein degenerierter Arbeiterstaat. Das ist die gesellschaftliche Diagnose. Die politische Prognose stellt die Alternative: Entweder wird die Bürokratie, indem sie zunehmend mehr das Organ der Welt-Bourgeoisie im Arbeiterstaat wird, die neuen Eigentumsformen abschaffen und das Land in den Kapitalismus zurückstoßen oder die Arbeiterklasse wird die Bürokratie zerschlagen und den Weg zum Sozialismus öffnen“.[10]Trotzki, Übergangsprogramm, S. 47

Eine Restauration des Kapitalismus, bzw. eine neue Klassenherrschaft hätte somit genau in Teilen der kleinbürgerlichen Kaste eine Stütze. Sie müßte sich jedoch gegen die soziale Grundlage und Eigentumsform und somit gegen den proletarischen Staat insgesamt richten.

Trotzkis umfassende Charakterisierung der SU als Übergangsregime, die er vor SO Jahren gab, trifft im Kern heute noch zu: „Das Sowjetregime als Übergangs- oder Zwischenregime zu bezeichnen, heißt, abgeschlossene soziale Kategorien wie Kapitalismus (darunter den ‚Staatskapitalismus‘) oder auch Sozialismus ausschalten. Aber diese an sich schon ganz ungenügende Bezeichnung kann sogar die falsche Vorstellung erwecken, als sei vom heutigen Sowjetregime ein Übergang nur zum Sozialismus möglich. Tatsächlich ist auch ein Zurückgleiten zum Kapitalismus durchaus möglich. Eine vollständigere Definition würde notwendigerweise komplizierter und schwerfälliger sein.

Die U.S.S.R. ist eine zwischen Kapitalismus und Sozialismus stehende, widerspruchsvolle Gesellschaft, in der a) die Produktivkräfte noch längst nicht ausreichen, um dem staatlichen Eigentum sozialistischen Charakter zu verleihen, b) das aus Not geborene Streben nach ursprünglicher Akkumulation allenthalben durch die Poren der Planwirschaft dringt, c) die bürgerlich bleibenden Verteilungsnormen einer neuen Differenzierung der Gesellschaft zugrundeliegen, d) der Wirtschaftsaufschwung die Lage der Werktätigen langsam bessert und die rasche Herausschälung einer privilegierten Schicht fördert, e) die Bürokratie unter Ausnutzung der sozialen Gegensätze zu einer unkontrollierten und dem Sozialismus fremden Kaste wurde, f) die von der herrschenden Partei verratene soziale Umwälzung in den Eigentumsverhältnissen und dem Bewußtsein der Werktätigen noch fortlebt, g) die Weiterentwicklung der angehäuften Gegensätze sowohl zum Sozialismus hin als auch zum Kapitalismus zurückführen kann, h) auf dem Wege zum Kapitalismus eine Konterrevolution den Widerstand der Arbeiter brechen müsste, i) auf dem Wege zum Sozialismus die Arbeiter die Bürokratie stürzen müssten. Letzten Endes wird die Frage sowohl auf nationaler wie internationaler Arena durch den Kampf der lebendigen sozialen Kräfte entschieden werden“.[11]Trotzki, Verratene Revolution, S. 245

Sowohl KPD wie BWK haben bisher nicht beantwortet, seit wann die Sowjetunion von einer neuen Ausbeuterklasse beherrscht wird, bzw. ob vielleicht die Oktoberrevolution selbst gar keine sozialistische Revolution war.

Wir können unsererseits Schneider wie den BWK-Arbeitsgruppen nur den Tip geben, bei den Anarchisten oder Kautsky nachzuschlagen, die eben diese neue Klassenherrschaft seit 1917 nachweisen: mittels einer Mehrwert einstreichenden „sozialistischen Intelligenz“ oder der Klassenteilung zwischen „leitender und ausführender Arbeit“.

Bisher wird aber hier auf weitere Studien verwiesen oder nur in dunklen Andeutungen Stellung bezogen. So formuliert der BWIS: „War, wie unter Lenin und Stalin, die Aufrechterhaltung der Diktatur des Proletariats das Ziel, haben diese Länder eine beispiellose Vorwärtsentwicklung durchgemacht“.[12]Politische Berichte, Sonderausgabe Januar 1983 „Die Entwicklung der Produktivkräfte, soweit sie sich nicht direkt auf die Arbeiter und Bauern und ihre Mobilisierung stützen kann, muß entwickelt werden durch neu ausgebildete Schichten technischer Intelligenz …

Die Heranziehung solcher Schichten wurde z.B. von Chruschtschow gefordert und entsprechende Versuche der Verbesserung der Verwaltung gemacht. Heute (!) halten diese Schichten als eine neue Klasse fast alle leitenden Positionen der Staatsbürokratie besetzt“.[13]ebenda

Davon abgesehen, daß Klassen sich eben nicht in der Verwaltung bilden, hat der BWK offensichtlich ein zweites Eigentor geschossen. Das dazugehörige Schaubild zeigt nämlich ein Ansteigen des Anteils der Angestellten in der Partei von 3% auf 51% in der Zeit von 1932-1956, also unter Stalins Herrschaft. Für den BWK schon eine „Stockung der beispiellosen Vorwärtsentwicklung“ unter Stalin?

Auch die KPD umkreist nur die Frage des Umschlags vom Sozialismus in Staatskapitalismus; ihre Analyse der UdSSR bricht 1923 unvermittelt ab, während Schneiders Pamphlet nur noch den kapitalistischen Ist-Zustand der heutigen DDR beweisen will. Nachdem die KPD gedämpft die Verstärkung der Elemente, die „Lenin als Teil des damals unvermeidbaren Rückzuges begriffen hat(te)“, durch die „ökonomischen Reformen … der zweiten Hälfte der 50er Jahre“ anklingen läßt, kennen wir bereits das Forschungsergebnis ohne Forschung: die „ ‚friedliche‘ Eroberung des Partei- und Staatsapparates durch eben diese neuen bürgerlichen Elemente“.[14]KH 10, S. 16[15]ebenda, S. 21

Wir meinen, die Vertreter von KPD und BVK drücken sich einfach um die platte Wiederholung des zentralen Glaubenssatzes der chinesischen Bürokratie herum, daß mit dem 20. Parteitag der KPdSU die Sternstunde der neuen Bourgeoisie angebrochen ist. Eine Rede — und dazu noch geheim — und der ganze Sozialismus war futsch! Damit konnte man vielleicht 1968 in der studentischen Jugend Politik machen, aber heute — bei all dem wissenschaftlichen Anspruch?

Was bleibt ist die Methode, das revisionistische Konzept der organischen Rückentwicklung des proletarischen Staates in einen kapitalistischen bzw. kleinbürgerlichen „Staatssozialismus“, ohne daß sich diese Restauration in einer Konterrevolution niederschlagen muß. Bereits 1933 stellte Trotzki zu dieser Methode der friedlichen Konterrevolution fest: „Die Theorien des Reformismus, soweit sich der Reformismus überhaupt zu Theorien erhob — beruhen letzten Endes immer auf Unverständnis für die Tiefe und Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze: daher die Perspektive des friedlichen `Hinüberwachsens vom Kapitalismus in den Sozialismus. Die marxistische These vom Katastrophencharakter des Übergangs der Macht aus den Händen der einen Klasse in die der anderen bezieht sich nicht nur auf die revolutionäre Periode, wo die Geschichte wie toll vorwärts rast, sondern auch auf die Periode der Konterrevolution, wo die Gesellschaft zurückrollt. Wer behauptet, der Sowjetstaat habe sich allmählich aus einem proletarischen in einen bürgerlichen verwandelt, der läßt den reformistischen Film in umgekehrter Richtung ablaufen“.[16]Trotzki, Die IV. Internationale und die UdSSR



Schlussfolgerungen der trotzkistischen Analyse der bürokratisch deformierten Arbeiterstaaten

Aus der trotzkistischen Einschätzung der Sowjetunion ergeben sich für uns zwei zentrale, miteinander eng verzahnte programmatische Positionen: die bedingungslose militärische Verteidigung der deformierten Arbeiterstaaten gegen Imperialismus und innere Konterrevolution sowie die politische proletarische Revolution zum Sturz der herrschenden Bürokratie. Ist jene die Voraussetzung zur politischen Revolution, so ist diese wiederum die effektivste Form der Verteidigung der deformierten Arbeiterstaaten.

Die politische Revolution hat die Wiederherstellung der Sowjetherrschaft, die Zulassung sowjetischer Parteien — generell die Wiedererrichtung der Arbeiterdemokratie zum Ziel, um einerseits die Planwirtschaft gemäß den Interessen der Produzenten und Konsumenten zu reorganisieren sowie andererseits die Politik des Stalinismus durch den proletarischen Internationalismus zu ersetzen.

Die Folgen des bürokratischen Kommandos der Planwirtschaft sind ungeheure Verschwendung der Ressourcen und Wechselbäder in der Wirtschaftsführung. Ein großer Teil des erwirtschafteten Mehrprodukts muß zur Deckung des gigantisch aufgeblähten bürokratischen Apparates und seiner materiellen Privilegien aufgewandt werden. Die Entfaltung der Planwirtschaft auf den Grundlagen des Staatseigentums setzt dagegen Arbeiterdemokratie voraus. „Die Druck ausübende herrschende Clique hat Sowjet, Partei, Gewerkschaft und kooperative Demokratie durch die Vorherrschaft der Funktionäre ersetzt. Aber eine Bürokratie, selbst eine, die aus lauter Genies zusammengesetzt wäre, könnte nicht von ihren Büros aus die notwendigen Proportionen zwischen allen Branchen der Industrie sichern, das heißt die notwendige Wechselwirkung zwischen Produktion und Konsumtion“. [1]Trotzki, Does the Soviet Government still follow the principles adopted twenty years ago? , Writings 1937/38, S. 127

Bei der weiteren Entwicklung der Produktivkräfte stößt die Ökonomie der deformierten Arbeiterstaaten auf eine strukturelle Barriere. Trotzki wies in der Verratenen Revolution auf den untrennbaren Zusammenhang von Arbeiterdemokratie und „Qualität der Arbeit“ hin: „Die fortschrittliche Rolle der Sowjetbürokratie fällt zusammen mit der Periode, in der die wichtigsten Elemente der kapitalistischen Technik auf die Sowjetunion verpflanzt wurden. Auf den von der Revolution geschaffenen Grundlagen vollzog sich die grobe Vorarbeit des Entlehnens, Nachahmens, Verpflanzens, Pfropfens. Ein neues Wort ist bisher weder in der Technik, noch der Wissenschaft oder Kunst gesprochen worden. Gigantische Fabriken nach fertigen westlichen Mustern kann man auch auf bürokratisches Kommando errichten, freilich dreimal so teuer. Aber je weiter der Weg geht, umso mehr läuft die Wirtschaft auf das Problem der Qualität hinaus, die der Bürokratie wie ein Schatten entgleitet. Die Sowjetproduktion scheint wie vom grauen Stempel der Gleichgültigkeit gezeichnet. In einer nationalisierten Wirtschaft setzt Qualität Demokratie für Erzeuger und Verbraucher, Kritik- und Initiativfreiheit voraus, d. h. Bedingungen, die mit einem totalitären Regime von Angst, Lüge und Kriecherei unvereinbar sind“.[2]Trotzki, Verratene Revolution, S. 265 f

So wird die politische Revolution Vorbedingung der Entfaltung der Produktivkräfte, entgegen Stagnation und bürokratischer Verschwendung; der Sturz der Bürokratie Voraussetzung der Freiheit der Arbeiterklasse von politischer Unterdrückung. Nur so kann in diesen Ländern der proletarische Internationalismus zur Geltung gebracht werden, der — nach Lenin — verlangt, „erstens, daß die Interessen des proletarischen Kampfes in jedem einzelnen Lande den Interessen des proletarischen Kampfes im Weltmaßstab untergeordnet werden; zweitens, daß die Nation, die den Sieg über die Bourgeoisie erringt, fähig und bereit ist, die größten nationalen Opfer für den Sturz des internationalen Kapitals zu bringen“.[3]Lenin, AW Bd. V, S. 590

Unabdingbar verknüpft mit dieser Perspektive des proletarischen Internationalismus ist die militärische Verteidigung der Errungenschaften der Sowjetunion. Das heißt nicht Unterordnung unter die Bürokratie, sondern trotz und gegen sie die Verteidigung gegen den Imperialismus mit revolutionären Methoden zu organisieren. Der BWK irrt, wenn er meint: „Trotz aller Großmachtpolitik, mit der die Sowjetunion Interessen der unterdrückten Völker verletzt(e), war und ist sie für den Befreiungskampf gegen Kolonialismus und Neokolonialismus eine wichtige Reserve“.[4]Gemeinsame Beilage, 30. November 1984 Die Politik der Bürokratie ist nämlich keine „imperialistische“ — oder „Großmachtpolitik“; ihr Interesse besteht vielmehr in der Erhaltung des status quo, der friedlichen Koexistenz. Da diese mit dem Imperialismus nicht zu haben ist, bleibt die Politik der Bürokratie zutiefst widersprüchlich: Einmal kann sie inkonsequente Unterstützung internationaler proletarischer oder kleinbürgerlicher Kräfte einschließen, zum anderen kann sie deren offener. Ausverkauf bedeuten. Niemals hat sie die bewußte Durchführung der sozialistischen Revolution zum Ziel.

Ausgangspunkt revolutionärer Strategie und Taktik ist dagegen die Notwendigkeit der internationalen Revolution. Deshalb kann sich die revolutionäre Partei sowohl in einem scharfen Gegensatz als auch in einer Einheitsfront mit den militärischen Kräften der Sowjetbürokratie befinden. So verteidigen wir z.B. die Eriträer gegen das von der Sowjetbürokratie unterstützte Mengistu-Regime Äthiopiens. Andererseits beziehen wir Seite für die sowjetischen Truppen in Afghanistan gegen feudal-reaktionäre Mullah-Banden, so wie wir in einem militärischen Block mit der polnischen Arbeiterbürokratie gegen Solidarnosc gestanden hätten.[5]siehe Gruppe IV. Internationale, Zuerst das Programm, S. 6-15

Bedingungslose militärische Verteidigung der deformierten Arbeiterstaaten gegen Imperialismus und innere Konterrevolution hat zum Inhalt, trotz der Bürokratie diese Staaten zu verteidigen. Der Sturz der bürokratischen Kaste ist dabei nicht Vorbedingung. Militärische Verteidigung im Gegensatz zur politischen Unterstützung der Bürokratie heißt eine Einheitsfront, einen militärischen Block gegen einen gemeinsamen Feind einzugehen ohne politische Unterordnung der Revolutionäre unter die Stalinisten.

Mit der gesteigerten Aggressivität des Imperialismus gegen die Sowjetunion und die anderen deformierten Arbeiterstaaten wächst die Verantwortung der internationalen Arbeiterbewegung, unzweideutig Stellung für diese Länder gegen die eigene Bourgeoisie zu nehmen. Der BWI< zeigt nur seine Unbedarftheit, wenn er die offiziellen Stellungnahmen Moskaus nachplappert: „im antifaschistischen Abwehrkampf v.a. der UdSSR zeigte sich gerade nach den Anfangserfolgen der Faschisten die Unmöglichkeit (!) der Wiedereinführung kapitalistischer Verhältnisse und schließlich, wie teuer solche Versuche von dem imperialistischen Aggressor zu bezahlen sind“.[6]Gemeinsame Beilage, 2/1985 Die siegreiche Beendigung des 2. Weltkrieges durch die Sowjetunion war alles andere als ausgemacht; die bürokratische Führung des Krieges führte an die Grenze der Niederlage. Es hängt von der Entwicklung des Klassenkampfes gerade in den imperialistischen Metropolen ab, ob es gelingt, die NATO-Kriegsvorbereitungen zu durchkreuzen.

Die Forderung nach der bedingungslosen militärischen Verteidigung ist keineswegs bloßes Kalkül einer realen militärischen sowjetischen Unterlegenheit, aus der z.B. der KB oder die Marxistischen Gruppen ihre Anti-NATO-Haltung begründen. Sie ist auch keine Forderung, die erst bei einer akuten Kriegsgefahr anstehen würde, wie die GIM dies manchmal noch zum besten gibt.[7]siehe Vereinigungsverhandlungen …, S. 14 Sie dient vielmehr der prinzipiellen Frontstellung gegen die Kapitalistenklasse hier. Gerade in der BRD und Westberlin spielt sie für die Entwicklung von Klassenbewußtsein gegen den demokratischen Antikommunismus und für die Perspektive der revolutionären Wiedervereinigung eine zentrale Rolle.

Wenn GIM und KPD sich immer wieder eines „demokratischen Sozialismus“ gegenüber den Zuständen in der DDR versichern, reflektieren sie nur die sozialdemokratisch antikommunistische Demagogie. So meint die KPD: „Jedenfalls: die mit den BWK-Thesen vollzogene Wendung von der grundsätzlichen Kritik der revisionistischen Länder zur ‚Anerkennung‘ ihres gegenüber dem westlichen Kapitalismus historisch fortschrittlichen Charakters würde die revolutionären Sozialisten in der Debatte über den Sozialismus in der Arbeiterbewegung an die Seite der DKP führen und damit ins Abseits“.[8]Gemeinsame Beilage, 1/1985 Und jetzt wissen wir, warum die KPD immer schon vorher das Ergebnis ihrer „wissenschaftlichen“ Analyse kennt — ihr geht es weniger um Klarheit in der „russischen Frage“ als um die „revolutionär“ verbrämte Wiederholung sozialdemokratischer Politik.

Ohne die trotzkistische Position zu den deformierten Arbeiterstaaten — politische Revolution und bedingungslose militärische Verteidigung — wird man gerade in der BRD die Loslösung der Arbeiterklasse vom sozialdemokratischen Einfluß nicht erreichen. Die politische Zerstörung der SPD ist jedoch eine Vorbedingung der sozialistischen Revolution in der BRD im Kampf um die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa!



Anmerkungen

Zum Klassencharakter der Sowjetunion

1) Kommunistische Hefte (KH) 13, S. 138

2) Lenin, AW in 6 Bänden, Bd. III, S. 557

Die marxistische Sozialismus-Konzeption

1) Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, S. 481 f

2) Lenin, AW Bd. III, S. 564

3) Marx/Engels, Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 34 f

4) KH 10, S. 53

5) KH 13, S. 82

6) Engels, Grundsätze des Kommunismus, MEW 4, S. 375

7) KH 10, S. 98

8) Lenin, Bericht über den Vereinigungsparteitag der SDAPR, Lenin Werke Bd. 10, S. 335

9) Trotzki, Geschichte der russischen Revolution 2, 2, S. 1033 f

Zur Diktatur des Proletariats

1) Lenin, AW Bd. V, S. 303

2) Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 28

3) KH 9, S. 108

4) siehe auch KH 9, S. 71, KH 13, S. 4 und KH 13, S. 13

5) KH 9, S. 49

6) KH 13, S. 13

7) KH 10, S. 17

8) KH 10, S. 12 ff

9) KH 10, S. 14 f

10) siehe „Denn sie wissen, was sie nicht tun“

11) Lenin, AW Bd. IV, S. 579

12) ebenda, S. 578 f

Die russische Oktoberrevolution und ihre Degeneration

1) Lenin, AW Bd. V, S. 279

2) KH 10, S. 57

3) Lenin AW Bd. VI, S. 234

4) ebenda, S. 252

5) ebenda, S. 253

6) ebenda, S. 261 f

7) Lenin, AW Bd. V, S. 304

8) KH 10, S. 121

9) KH 10, S. 60

10) KH 10, S. 85

11) KH 10, S. 87

12) siehe Bettelheim, Die Klassenkämpfe in der UdSSR, S. 382-392

13) KH 10, S. 18

14) siehe KH 10, S. 14

15) siehe KH 13, S. 97

16) Gruppe IV. Internationale, Zuerst das Programm, S. 9

17) KH 10, S. 21

18) KH 10, S. 96

19) zit. nach: KH 10, S. 65

20) KH 10, 5. 65f

21) Lenin, AW Bd. VI, S. 55

Die Theorien von KPD und BWK zur Einschätzung der Sowjetunion

A. Die marxistische politökonomische Analyse und ihre Anwendung auf die deformierten Arbeiterstaaten

1) Schneider, Zum ökonomischen System der DDR, S. 33 f (im folgenden: Schneider)

2) Marx, Brief an Annenkow vom 20.12.1846, MEW 27, S. 456

3) Marx, Das Kapital III, MEW 25, S. 886-888

4) Marx, Grundrisse, S. 317

5) ebenda, S.324, Fußnote

6) Schneider, S. 136 Schneider, S. 136

7) siehe Marx/Engels, Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 338-351

8) Marx, Das Kapital III, MEW 25, S. 400

9) ebenda, S. 452

10) Schneider, S. 8

11) Engels, Anti-Dühring, MEW 20, S. 260

12) Programmentwurf der KPD, zit. nach: Die Vereinigungsverhandlungen …, S. 10

13) Schneider, S. 33

14) Engels, Brief an Schmidt vom 27.10.1890, MEW 37, S. 493

15) Engels, Anti-Dühring, MEW 20, S. 289

16) Schneider, S. 22 f

17) ebenda, S. 106

18) ebenda, S. 111

B. Die Entwicklung der Staatskapitalismus-Konzeption bei Schneider und Bettelheim

1) Schneider, S. 118 f

2) Bettelheim, Ökonomisches Kalkül und Eigentumsformen, S. 154

3) Schneider, S. 117

4) zit. nach Kemp, Class, cast and state in the Soviet Union, in: What is revolutionary Leadership, S. 47

5) Schneider, S. 116

6) ebenda, S. 33

7) Bettelheim, Die Klassenkämpfe in der UdSSR, Vorwort, S. 45

8) Schneider, S. 120

9) Bettelheim, Ökonomischer Kalkül …, S. 77

10) ebenda, 5.94

11) Bettelheim, Die Klassenkämpfe …, S. 46, Fußnote

12) Bettelheim, Ökonomischer Kalkül …, S. 154

13) Schneider, S. 139

14) Marx, Zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 13, S. 9

C. KLASSE ODER KASTE?

1) Politische Berichte, Sonderausgabe Januar 1983

2) Gemeinsame Beilage, 1/1985

3) Marx/Engels, Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 32

4) Gemeinsame Beilage, 30. November 1984

5) Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S. 21

6) Gemeinsame Beilage, 30. November 1984

7) Politische Berichte, Sonderausgabe März 1984

8) Gemeinsame Beilage, 30. November 1984

9) Trotzki, Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen?, S. 144

10) Trotzki, Übergangsprogramm, S. 47

11) Trotzki, Verratene Revolution, S. 245

12) Politische Berichte, Sonderausgabe Januar 1983

13) ebenda

14) KH 10, S. 16

15) ebenda, S. 21

16) Trotzki, Die IV. Internationale und die UdSSR

Schlussfolgerungen der trotzkistischen Analyse der bürokratisch deformierten Arbeiterstaaten

1) Trotzki, Does the Soviet Government still follow the principles adopted twenty years ago? , Writings 1937/38, S. 127

2) Trotzki, Verratene Revolution, S. 265 f

3) Lenin, AW Bd. V, S. 590

4) Gemeinsame Beilage, 30. November 1984

5) siehe Gruppe IV. Internationale, Zuerst das Programm, S. 6-15

6) Gemeinsame Beilage, 2/1985

7) siehe Vereinigungsverhandlungen …, S. 14

8) Gemeinsame Beilage, 1/1985