Die UdSSR vor dem Zerfall — njet zu Gorbatschow

Unter dem Druck der imperialistischen Offensive und Massenmobilisierungen im Innern zerbricht die stalinistische Herrschaft, Stück für Stück, von Belgrad über Berlin bis Moskau. Der vorerst letzte Schlag traf den Ceausescu-Clan.

Die Oktoberrevolution unter Führung der Bolschewiki errichtete die Macht der Arbeiterklasse, politisch durch Sowjetdemokratie, ökonomisch durch die Enteignung der Kapitalistenklasse und Schaffung des proletarischen Staatseigentums. „Alle nationalen Opfer bringen, um die internationale Revolution zu fördern“ — das war die Botschaft des Leninismus an die internationale Arbeiterbewegung. Der Stalinismus, kodifiziert in Stalins reaktionärer Utopie vom „Sozialismus in einem Land“, trat 1923 seinen Siegeszug durch die gezielte Zerstörung der Parteidemokratie und Sowjets an; die Liquidierung der Avantgarde der Arbeiterklasse folgte national und international. Diese politische Konterrevolution brachte die Bürokratie an die Macht, ohne im wesentlichen die Grundlagen des Arbeiterstaates anzutasten. Die Bürokratie repräsentiert keine Klasse, da sie keine ihr spezifisch entsprechende Eigentumsformen hervorbringt; vielmehr ist sie eine schmarotzende Schicht, die sich im großen staatlich organisierten Stil reproduziert und als Mittler fungiert zwischen proletarischem Staatseigentum und (klein-)kapitalistischer Warenproduktion sowie zwischen Arbeiterstaat und Imperialismus.

Nach über sechzigjähriger Despotie ist nun das Ende der Fahnenstange erreicht. In der ausweglosen Krise des Stalinismus versucht Gorbatschow, Stalins Erbe, die gefährdete Stellung der Bürokratie durch Perestroika und Glasnost zu retten.

Was nach drei Jahren Perestroika in der Sowjetunion als katastrophale ökonomische Misere zutage tritt, ist die Zuspitzung der strukturellen Krise stalinistischer Kommandowirtschaft. Bereits 1936 wies Trotzki daraufhin, daß auf einer höheren Stufe der Produktivkraftentwicklung die Ökonomie des bürokratisch deformierten Arbeiterstaates auf eine interne Barriere stößt. Nur durch massenhafte Teilnahme der Arbeiter an der Gestaltung des immer komplizierteren Produktionsprozesses ist eine höhere Qualität und Produktivität zu erreichen. Das setzt allerdings den freien Meinungsstreit im Rahmen der Arbeiterdemokratie voraus, den die stalinistische Bürokratie nicht zulassen kann, ohne die eigene Stellung zu gefährden — sie wird so zur Quelle der Stagnation.

Seit Anfang der 80er Jahre ist die Stagnation der Sowjetökonomie i n einen galoppierenden Zerfall übergegangen. Die Bürokratie ist um ihrer Selbsterhaltung willen gezwungen, einen Teil des korrupten Apparats zu säubern und versucht die Verantwortung für die Mißwirtschaft auf die Ebene der Fabrik abzuwälzen. Das Programm der Perestroika greift auf kapitalistische Stimuli zurück: Die Devise heißt Steigerung der Produktion durch Einführung von Konkurrenzmechanismen. Das Ziel der Rentabilität soll erreicht werden mit Methoden wie betriebliche Festlegung der Produktionspalette und der Preise, freier Kauf und Verkauf zwischen den einzelnen Betrieben, freier Zugang zum Weltmarkt, Beteiligung der Belegschaft an erwirtschafteten Überschüssen kombiniert mit der Entlassung „überflüssiger“ Arbeiter.

Die Idee der Ergänzung des Plans durch den Markt, Gorbatschows sogenannter Marktsozialismus, ist ein Spiel mit gezinkten Karten. Zur Rettung und Ausweitung des Staatseigentums war Lenin zum Kompromiß der NEP in den 20er Jahren gezwungen, die heutigen Reformer setzen dagegen auf die Kräfte des Marktes, um den staatlichen Sektor zu schwächen. Im März 1988 wurde mit den Gesetzen zur Gründung von Kooperativen auf Pachtgrundlage die Möglichkeit zur Kapitalbildung geschaffen. Die so v. a. im Dienstleistungs- und Verteilungssektor neu entstehende Bourgeoisie entwickelt sich rasant, vorbei am Plan, über den inneren Markt und den freien Zugang zum Weltmarkt. Indem die Kooperativen auf marktwirtschaftlicher Grundlage als Käufer, Verkäufer und Vermittler mit den staatlichen Betrieben verbunden sind und zudem Teile der durch die Reformen freiwerdenden Arbeitskräfte absorbieren, stärken sie die kapitalistischen Elemente im staatlichen Sektor. Heute gibt es über 10.000 Unternehmen, die das Recht haben selbständig Außenhandel zu treiben (Moskau News Jan. 1990), die Zahl von joint-ventures ist sprunghaft von 70 auf über 1.000 angestiegen (taz 06.10.89). Die Aufhebung des Außenhandelsmonopols im April 1989 hat die Konkurrenz zwischen den von Ministerien kontrollierten Außenhandelsbetrieben und den frei handelnden Kooperativen und Betrieben so sehr angeheizt, daß der Oberste Sowjet schon im Oktober des gleichen Jahres sich gezwungen sah, zugunsten der Ministerien zu intervenieren. Dadurch konnte jedoch der katastrophale Effekt der kapitalistischen Tendenzen, die Verschiebung riesiger Warenmengen auf den Weltmarkt, nicht verhindert werden.

Perestroika hat die Zersetzung des Wirtschaftsorganismus nicht aufgehalten, sondern nur beschleunigt. Kennzeichnend dafür sind der Zusammenbruch der Versorgung, die Einführung des Bezugsscheinsystems in ganzen Regionen, der weitere Zerfall der Maschinerie und d,~s Transportwesens, die inzwischen beträchtliche Arbeitslosigkeit und die schwarzen Arbeitsmärkte v.a. in südlichen Republiken. Indikator für die desolate Situation ist die Entwertung des Rubels. Darüberhinaus verstärkt Perestroika die zentrifugalen Tendenzen, die entlang der Nationalitäten die Union zu sprengen drohen; der großrussische Chauvinismus formiert sich unter Protektion hochgestellter Bürokraten in faschistischen Organisationen wie Pamyat. Das Anwachsen der Klassengegensätze in der UdSSR führt zur Stärkung zentraler Institutionen. Die Konzentration der Machtbefugnisse in einer Person ist Ausdruck dieser gefährlichen Zuspitzung bonapartistischer Herrschaft.

In Perestroika kulminiert die Politik einer selbstsüchtigen Kaste, die nicht umhin kann, die Konterrevolution zu fördern, um weiterhin einen saftigen Teil des Mehrproduktes einzustreichen. Dadurch droht dem Arbeiterstaat der Zusammenbruch.

Gegen Stalins Autarkieillusionen wies Trotzki nach, daß sich mit wachsender Produktivität und Arbeitsteilung die Abhängigkeit der Sowjetunion vom Weltmarkt nicht mindern, sondern steigern würde. Gorbatschows Versuch, die Misere mit kapitalistischen Kräften im Innern zu kurieren, wird kombiniert mit der Aufforderung an das internationale Kapital, in das Projekt Perestroika zu investieren. Perestroika hat es ermöglicht, von Warschau bis Sofia die letzten Schleusen für die Roßkur des IWF zu öffnen.

Revolutionäre Politik zielt dagegen auf die Abwehr des imperialistischen Drucks. Es gibt keinen Sozialismus in einem Land. Der Aufbau der klassenlosen Gesellschaft ist nur international möglich. Die Revolution in einem Land kann sich für eine bestimmte Periode halten, sie muß jedoch ausgeweitet werden — oder sie geht unter. Ohne proletarischen Internationalismus entscheidet die Bourgeoisie die Frage „wer — wen?“ für sich. Die stalinistische Politik der friedlichen Koexistenz, ob in Nicaragua oder Kuba, in Afghanistan, Kambodscha oder Vietnam, führt zum Verrat an den internationalen Interessen der Arbeiterklasse. Die „Abrüstungsverhandlungen“ haben die tendenzielle Entwaffnung der UdSSR und Stärkung der aufrüstenden NATO zur Konsequenz; darüberhinaus beschleunigt Perestroika das Auseinanderfallen des Warschauer Pakts. Es hat den Anschein, als gelänge es dem Imperialismus, das Sowjetreich friedlich mit dem Speer des Kapitals zu durchdringen. In Wirklichkeit aber erfordert der Vollzug der bürgerlichen Konterrevolution den Bürgerkrieg.

Die Widersprüche zwischen Plan und Markt spitzen sich zu und finden ihren politischen Ausdruck in der unvermeidlichen Fraktionierung der Bürokratie bis hinein in die Armee. Das führt zu Widersprüchen der offiziellen Politik. Im Oktober 1989 sah sich die herrschende Fraktion gezwungen durch erneute Preisfestlegung und höhere Besteuerung der Kooperativen, Perestroika partiell zurückzunehmen. Gleichzeitig brachte sie jedoch das Gesetz zum Eigentum auf den Weg, das durch eine Vielfalt von Eigentumsformen die Dominanz des Staatseigentums ersetzen soll (SZ 21.11.89). Zerrissen zwischen den Interessen der Bourgeoisie und denen des Proletariats schwankt die Bürokratie hin und her: Doch in der Konsequenz können weder die Perestroika-Gegner wie Ligatschow noch die prokapitalistischen Kräfte um Jelzin den Ausgang dieses Kampfes entscheiden. Die Perestroika-Fraktion wird fallen, letztlich wird die Bürokratie gestürzt werden entweder durch die kapitalistische Konterrevolution oder die proletarische politische Revolution. Allen Fraktionen der Bürokratie ist gemeinsam die Furcht vor der unabhängigen Mobilisierung des Proletariats.

Gorbatschow war klar, daß ohne eine offenere Diskussion im wissenschaftlichen und kulturellen Bereich der ökonomischen Stagnation nicht beizukommen ist. Glasnost ist die bürokratische Anerkennung der Notwendigkeit von Arbeiterdemokratie; die Perestroika-Fraktion will diese Liberalisierung zur Stabilisierung der bürokratischen Herrschaft nutzen. Über die Gewinnung der Intelligenz hinaus sollen auch die Arbeiter in den Umbau einbezogen werden. Damit der Ausverkauf reibungsloser über die Bühne geht dürfen sie jetzt, eingeklemmt in die Erfordernisse des Marktes, unter Kandidaten der Bürokratie ihre Fabrikdirektoren „frei“ wählen. Die Verfassungsreformen und die (bisher eingeschränkten) „freien Wahlen“ stärken bürgerlich-parlamentarische Illusionen in der Arbeiterklasse und steigern so die Chancen konterrevolutionärer Kräfte, die Erosion des Arbeiterstaates auch auf der politischen Ebene vorwärtszutreiben.

Der unbeabsichtigte Nebeneffekt von Glasnost, mehr Ellbogenfreiheit für das Proletariat, wurde in den großen Sommerstreiks 1989 genutzt. Die sowjetischen Bergarbeiter aller bedeutenden Kohlereviere standen über die nationalen Grenzen hinweg zusammen und sagten den Auswirkungen der Reformpolitik den Kampf an. Doch gleich zu Anfang mischten sich unter die berechtigten Parolen zur Verbesserung der materiellen Lage Forderungen nach Dezentralisierung, Eigenwirtschaftlichkeit und Weltmarktlizenzen für die Betriebe, die die Illusionen der Arbeiter in Perestroika widerspiegeln. Die Umsetzung solcher Forderungen führt unvermeidlich zur Regionalisierung der Konflikte und zu Verteilungskämpfen zwischen den Arbeitern der einzelnen Betriebe und werden jede Streikfront spalten. Die Bürokratie reagierte auf die Bewegung mit dem Verbot politischer Streiks und hakte beim Wiederaufflammen im Herbst nach durch ein generelles Streikverbot in Versorgungs- und Transportbetrieben. Dadurch nahmen die Streiks automatisch einen politischen Charakter an, was sich deutlich in der Oktoberplattform des Arbeiter- und Streikkomitees von Workuta (taz 18.11.89) ablesen läßt. Neben demokratischen Rechten, an erster Stelle das Streikrecht, und der Kampfansage an die Zentralbürokratie stehen Forderungen nach der Reform von Staats-, Partei- und Gewerkschaftsapparat, die durch allgemeine demokratische Wahlen durchgesetzt werden sollen.

Kommunisten hatten diese Streiks gegen die bürokratische Mißwirtschaft zu unterstützen. Allerdings wäre es fatal, sich über den diffusen Stand des Klassenbewußtseins der sowjetischen Arbeiter irgendwelche Illusionen zu machen; der widersprüchliche Charakter der aufgestellten Forderungen muß alarmieren. Gegen alle Illusionen in eine klassenlose Demokratie und Reformierbarkeit der Bürokratie, gegen die Dezentralisierung und Auflösung des Plans muß Stellung bezogen werden. Kommunisten kämpfen für den Zusammenschluß des Proletariats, für die Erstellung eines gesamtwirtschaftlichen Plans, demokratisch diskutiert und beschlossen durch die Arbeiterräte. Es ist dringend notwendig, mit einem Programm gegen stalinistischen Ausverkauf und kapitalistische Konterrevolution, die von den Bergarbeitern geschaffenen unabhängigen Sowjets über die nationalen Grenzen hinweg auszuweiten und zur Gegenmacht gegen die Bürokratie auszubauen. Die so wieder hergestellte Arbeiterdemokratie wird die Basis bieten, die Stalinisten durch proletarische politische Revolution wegzufegen. Entscheidend ist es, in welche Richtung die Arbeiterproteste gelenkt werden. Die widersprüchlichen Forderungen von Workuta unterstreichen die Notwendigkeit der Intervention der Revolutionäre. Das trotzkistische Programm ist die Voraussetzung zur revolutionären Lösung der Krise der UdSSR.