Lenin und die nationale Frage in der UdSSR

Während Perestroika einen Frontalangriff auf die Interessen der Arbeiterklasse bedeutet, setzt sie gleichzeitig die bisher unter russisch-chauvinistischer Knute unterdrückten nationalen Antagonismen frei. Die Moskauer Nationalitätenpolitik schloß ein partielles Eingehen auf nationale Bedürfnisse zur Stabilisierung der Macht ein (beginnend in den 20er Jahren mit der Politik der Korenisazija). Die nationale Unterdrückung wurde aber immer dann verschärft, wenn sich die russische Bürokratie in ihrer Herrschaft bedroht sah. Unterdrückung der nichtrussischen Minderheiten ist immanenter Bestandteil des stalinistischen Systems. Entweder es gelingt, den Kampf gegen nationale Unterdrückung in den Kampf für proletarische politische Revolution einzubetten oder die nationale Frage wird die Klassenkämpfe im bürgerlichen Nationalismus ersticken.

In der Tradition Lenins treten Trotzkisten für das Recht auf Selbstbestimmung ein. Wir kämpfen gegen alle Formen nationaler Unterdrückung im politischen, ökonomischen und kulturellen Bereich. 1939 konkretisierte Trotzki zur Ukraine dieses Programm für die bürokratisch deformierten Arbeiterstaaten: Wir sind gegen die Loslösung in Form bürgerlicher Staaten, gegen die bürgerliche Konterrevolution unter dem Deckmantel des Widerstandes gegen nationale Unterdrückung, aber für das Recht auf Bildung unabhängiger sozialistischer Republiken.

Recht auf Lostrennung heißt für Leninisten aber nicht per se in jeder Situation für die Lostrennung zu agitieren. Die Parole der Lostrennung muß vielmehr, allgemein gesprochen, den nationalen wie internationalen Klassenkampf fördern anstatt die Arbeiter entlang nationalistischer Linien zu spalten. So forderten

Trotzkisten 1939 eine unabhängige sozialistische Ukraine, um den sich herausbildenden Unabhängigkeitswillen für die proletarische politische Revolution gegen Stalin zu nutzen. (Darüberhinaus sollte so die sozialistische Revolution gegen die kapitalistischen Regime in Rumänien, Ungarn und Polen vorangetrieben werden, die die ukrainischen Minderheiten verfolgten.) Hingegen traten die Bolschewiki 1917 zu Polen und der Ukraine zwar für das Recht auf Lostrennung ein, propagierten darüberhinaus jedoch eine Politik der revolutionären Vereinigung mit der russischen Revolution, obwohl z.B. in Polen die Mehrheit der Bevölkerung vehement diese Vereinigung ablehnte. Der Mehrheitswillen einer unterdrückten Nation stellt für die Taktik der Kommunisten zur Frage der Lostrennung also kein allein entscheidendes Kriterium dar.

Glasnost bringt es an den Tag: Die Kämpfe gegen die großrussische Unterdrückung, soweit uns bekannt fast ausschließlich unter reaktionärer Führung, haben sich zu einem unionweiten Phänomen ausgeweitet, während im Gegenzug Pamyat wächst. Trotz aller Konzessionen Gorbatschows, die russische Zwangsjacke zu lockern: Über 60 Jahre nationalistische Verfolgung zeigen, daß eine grundsätzliche Wende nötig ist. Mit einem prinzipiellen Nein zur bürokratisch zwangsvereinigten Union muß jede revolutionäre Stellung zur Nationalitätenfrage in der UdSSR beginnen.

Natürlich sind Kommunisten grundsätzlich für einen möglichst umfassenden staatlichen Zusammenschluß der internationalen Arbeiterklasse; nur eine zentralisierte Planwirtschaft kann die vorhandenen Ressourcen unter den Nationen gleichmäßig verteilen. Ein Auseinanderfallen der Sowjetunion entlang partikularer, nationaler Linien wäre zudem ein fundamentaler Schlag gegen die Interessen der internationalen Arbeiterbewegung.

Der Kampf für das Recht auf Selbstbestimmung muß heute entgegen der Lostrennung verbunden werden mit der Perspektive der freiwilligen Vereinigung der Völker der UdSSR auf der Grundlage sozialistischer Republiken. Entscheidend dafür ist die Erfahrung des Bergarbeiterstreiks 1989: Die kommenden Arbeiterkämpfe gegen die Auswirkungen der Perestroika stehen in einem unionweiten Kontext; die Perspektive der Aufsplitterung in nationale Republiken würde somit dem internationalen Charakter der Arbeitermobilisierungen zum Sturz der Moskauer Bürokratie zuwiderlaufen.

Darüberhinaus ist die Revision der Völkerverbrechen Stalins, die Verschleppung z.B. der Krim-Tartaren oder der Wolgadeutschen, die Einlösung des Rechts auf Rückkehr in vorher bewohnte Gebiete überhaupt nur denkbar in einem internationalen Verbund. Nur so können die Rechte der jetzt dort heimisch gewordenen Bevölkerung geschützt werden; nur so kann verhindert werden, daß eine Wiederansiedlung im nationalen Hader, womöglich mit einer erneuten Vertreibung endet.

Von der Stärke der Arbeiterbewegung im Kampf für proletarische politische Revolution wird die Form der freiwilligen Vereinigung abhängen. Während die russischen Trotzkisten im Kampf gegen den großrussischen Chauvinismus das Recht auf unabhängige sozialistische Republiken betonen, müssen z.B. die armenischen und aserbaidschanischen Trotzkisten das Ziel der Vereinigung herausstellen. Nur mit dieser Methode, das Genaue Gegenteil von Ignoranz gegenüber der nationalen Frage, kann deren reaktionäre „Lösung“, also die großrussische bzw. die Bildung unabhängiger kapitalistischer Staaten, verhindert werden.


Blutiger Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan

An der Peripherie der UdSSR erhielten die bürgerlichen Sezessionsbestrebungen durch Perestroika mächtigen Auftrieb. Der kriminelle Rückzug sowjetischer Truppen aus Afghanistan stärkte zudem die konterrevolutionären islamischen Kräfte. Zwischen Armenien und Aserbaidschan ist es zu einem reaktionären Krieg gekommen, bei dem die Arbeiter beider Seiten nur verlieren können. Wir verteidigen militärisch die Entsendung sowjetischer Truppen und treten für die Verbrüderung mit den sowjetischen Soldaten ein. Die organisierte bürgerliche Konterrevolution wird damit fürs erste gestoppt, politisch jedoch löst der Einmarsch nichts!

Handelsblockaden, Genozid an den jeweiligen Minderheiten, Massenvertreibungen — dahin ist es durch den großrussischen Chauvinismus der Bürokraten gekommen! In Perspektive der freiwilligen Vereinigung fordern wir die revolutionäre Verbrüderung der Arbeiter beider Länder gegen den tödlichen Nationalismus. Nagorny Karabach ist zum Vorwand der Pogrompolitik der Reaktionäre beider Seiten geworden. Bei 80% armenischem Bevölkerungsanteil muß der Wille nach Wiederangliederung an Armenien von aserbaidschanischen Internationalisten unterstützt werden — wie 1920 nach dem Einmarsch der Roten Armee. Umgekehrt müssen die armenischen Revolutionäre die Sicherheit und gleichen Rechte der in Nagorny Karabach lebenden Aseris durchsetzen und gleichzeitig den Anspruch armenischer Nationalisten auf das aserbaidschanische Nachitschewan zurückweisen. Nur durch eine Praktizierung des Internationalismus haben die werktätigen Massen der UdSSR eine Zukunft!


Die Konterrevolution im Baltikum marschiert

Die reaktionären Konsequenzen der Perestroika sind auch im Baltikum deutlich. Die Förderung der kapitalistischen Tendenzen durch Moskau führte zur Konzession der baltischen Wirtschaftsautonomie — ein geeigneter Boden für die erstarkten bürgerlichen Kräfte, die den nationalen Widerstand gegen großrussischen Chauvinismus nutzen wollen, um die bürokratisch deformierte Diktatur des Proletariats in diesen Republiken zu stürzen.

Die Volksfronten, einst gegründet mit Hilfe Moskaus, kippten endgültig Mitte letzten Jahres ins Lager der Konterrevolution. Die Erklärung des „Baltischen Rates“ für bürgerliche Demokratie und gegen die „roten Faschisten“ war das Credo der Menschenkette am 23. August 1989. Aufgrund dieser nationalistischen Agitation gelang den Interfronten, deren Führungen sich v. a. aus höheren russischen Militärs und Betriebsmanagern zusammensetzen, eine Verankerung in der russischen Arbeiterklasse. In diesem Bürgerkriegsgebräu entlang nationalistischer Linien versuchen die nationalen KP-Führungen zur Erhaltung ihrer Stellung durch Kollaboration mit den Volksfronten die Explosion zu verhindern. Ein Spiel mit dem Feuer! Trotzkisten sind für die gemeinsame Mobilisierung der baltischen wie russischen Arbeiterklasse gegen Konterrevolution und Bürokratie. Arbeiter haben nichts zu wählen zwischen bürokratischen Zentralisten und Reformern. [wir sind für den Sturz aller Fraktionen der Bürokratie.

Für den Kampf gegen die lettischen, litauischen und estnischen Nationalisten, die Träger der kapitalistischen Restaurationsbestrebungen, ist darüberhinaus eine korrekte Position zur nationalen Frage entscheidend. Ausgangspunkt muß der Kampf gegen den traditionellen großrussischen Chauvinismus im Baltikum sein. Eine mögliche, von uns nicht befürwortete Lostrennung könnte jedoch demokratisch nur durch einen gemeinsamen Sowjetkongreß beschlossen werden, der die Arbeiter aller Nationalitäten eines Landes umfaßt. Obwohl wir die Methoden der Entwicklung der baltischen Länder durch Stalin und seine Nachfolger ablehnen — Fakt ist, daß Russen und andere Nichtbalten jetzt dort leben und darum ein Recht auf volle Gleichberechtigung haben. Auf lettischem und estnischem Gebiet existieren eng miteinander verbundene Völkerschaften. In Lettland ist die Hälfte der Bevölkerung russisch, in Estland stellen die Esten nur ca. 60%; nur in Litauen dominieren noch die Litauer mit ca. 80%. In allen baltischen Staaten bilden die russischen Arbeiter einen wesentlichen Teil des Industrieproletariats.

Kommunisten sind gegen die Umkehrung von Unterdrückung. Deshalb sind wir gegen die chauvinistischen Wahlrechtsbeschränkungen, gegen jegliche Diskriminierung, die sich im Baltikum besonders gegen Russen richtet, generell für die gleichen staatsbürgerlichen Rechte aller Nationalitäten. Der Kampf gegen die bürokratisch zwangsvereinigte Union, für den freiwilligen Zusammenschluß auf sozialistischer Grundlage muß auch hier Leitlinie für eine integrierte baltische Parteiorganisation der sowjetischen trotzkistischen Arbeiterpartei sein, um den Kampf gegen alle nationalistischen Spaltungen aufzunehmen und so die Hegemonie der Arbeiterklasse herzustellen.