Polen und Ungarn am Rande des Abgrunds

In Polen und Ungarn ist die Erosion der bürokratisch deformierten Arbeiterstaaten Osteuropas am weitesten fortgeschritten; dies findet seinen Ausdruck in der Bildung prokapitalistischer Regierungen. Im Unterschied zur Gorbatschow-Regierung, die durch ihre Ausverkaufspolitik bürgerliche Restaurationstendenzen stärkt, wollen Mazowiecki und Nemeth kapitalistische Verhältnisse.

In Polen kanalisierte 1981 die katholisch-reaktionäre Massenbewegung Solidarnosc die politische Enttäuschung der polnischen Arbeiterklasse über die Arbeiterverräter Gomulka und Gierek. Dem Ziel Walesas — Durchsetzung eines kapitalistischen Polens — kam Jaruzelskis Coup im Dezember 1981 zuvor. Trotzkisten verteidigen bedingungslos militärisch die proletarischen Eigentumsformen aller deformierten Arbeiterstaaten. Bedingungslos heißt: Wir machen diese Verteidigung nicht abhängig von der Existenz der stalinistischen Bürokratie. Militärische — im Gegensatz zu politischer — Verteidigung heißt: Wir rufen die Arbeiter zum Widerstand gegen innere wie äußere Konterrevolution auf, was die Möglichkeit eines militärischen Blocks mit den Stalinisten einschließt. Jaruzelski durfte nicht durch rechts gestürzt werden! In der Kritik der stalinweichen Internationalen Kommunistischen Liga/Trotzkistische Liga Deutschlands (IKL/TLD) hielten wir jedoch fest: Wir Trotzkisten übernehmen keine politische Verantwortung für stalinistische Politik. Jaruzelskis Unterdrückung von Solidarnosc geschah aus selbstsüchtigen Motiven; der polnischen Bürokratie ging es um die Verteidigung ihrer Privilegien, die von der Erhaltung sozialistischer Eigentumsformen abhingen. Die politische Unabhängigkeit der Trotzkisten auch in dieser zugespitzten Situation war die Voraussetzung, den Solidarnosc-Einfluß mit revolutionären Methoden zu zersetzen, mit einer revolutionären Reorientierung der Arbeiterklasse zu beginnen hin zum Sturz der Bürokratie.

Die aktuelle Entwicklung Polens gibt unserem Programm Recht. Während wir 1981 in Konfrontation zur Mehrheit standen, ist heute die Position von Solidarnosc in der Arbeiterklasse angeschlagen. Die Stalinisten hingegen waren unfähig die strukturellen Probleme des Landes zu lösen. Rasanter Produktivitätsverfall in der Industrie, weitere Stärkung der ineffizienten privaten Landwirtschaft, hohe Auslandsverschuldung — da Jaruzelski sich nicht auf die Arbeiter stützen konnte, setzte er das Solidarnosc-Programm Stück für Stück selbst um, in der Hoffnung die Kontrolle zu behalten. Offenes Eingeständnis des Bankrotts war die Regierungsübergabe an die bürgerlichen Kräfte; ein Teil der Bürokratie erklärte damit seine Bereitschaft, durch direkte Kollaboration mit der Konterrevolution den Kapitalismus zu etablieren, um die eigenen Privilegien zu retten.

In Ungarn finanzierte Kadar seinen „Gulaschkommunismus“ mit dem Ausverkauf des Landes an die Imperialisten. Nach der Niederschlagung des ersten organisierten Versuchs der proletarischen politischen Revolution durch Arbeiterräte 1956 erkauften die ungarischen Stalinisten die Wiederherstellung der Ruhe im Land mit Verschuldung und ökonomischer Stagnation. Die ersten marktwirtschaftlichen Reformen Ende der 60er Jahre blieben wirkungslos. Die systemimmanente Ausweglosigkeit der Krise führte zur Herausbildung des prokapitalistischen Flügels um Poszgay, Horn, Nemeth. 1989 spaltete sich die Bürokratie in die USAP (Grosz, Berecz, Ribanszki) und Nyers USP, die den restaurativen Kurs der bonapartistischen Regierung Nemeth/Poszgay stützt.

„Niemand hat je die Möglichkeit ausgeschlossen — vor allem im Falle eines weiter anhaltenden Zersetzungsprozesses in der Welt —, daß eine neue, aus der Bürokratie hervorgehende besitzende Klasse entstehen kann“ (Trotzki). Ungarn und Polen bestätigen Trotzkis Hypothese von der Umwandlung eines Teils der Bürokratie in Kapitalisten. Die Bürokratie ist keine Klasse sondern eine schmarotzende Kaste. Trotzkis zentraler Aspekt bei der Analyse des degenerierten Arbeiterstaates UdSSR in den 20er und 30er Jahren war die Gefahr der inneren wie äußeren Konterrevolution durch kapitalistische Kräfte (unterstützt durch marginale Teile der Bürokratie) gegen die Zentralbürokratie.

Ungarn und Polen zeigen nun, daß ein Teil der Zentralbürokratie selbst sich auf die Suche nach Stützen in neuen, kapitalistischen Eigentumsverhältnissen begibt. Hier ist der Prozeß der Umwandlung der Bürokraten in Kapitalisten schon weit vorangeschritten. In Form von Aktiengesellschaften pachten Betriebs- und Staatsbürokraten produktive Betriebe für ein Butterbrot und/oder verkaufen direkt, vorbei an den staatlichen Organen, an die Imperialisten (kürzlich Hungaria an die Münchener Allianz, Tungsram an General Electric usw.; allein 1989 94 teils renommierte Betriebe (FAZ 20.12:89)). Die Rekapitalisierung des polnischen Lebensmittelgiganten Iglopol oder der Verkauf von USAP-Besitz auf dem Budapester Immobilienmarkt durch die Partei-Firma Next 2000 wirbelten in der Öffentlichkeit einigen Staub auf. Darüberhinaus verdienen die Bonzen als Agenten mit, wenn sie bei der Verteilung knapper Güter die neue Bourgeoisie bevorzugen. Diesem Umwandlungsprozeß entspricht politisch die Bildung prokapitalistischer Regierungen, die mit der Auflösung des Außenhandelsmonopols, der Förderung des Privateigentums und der Degradierung der Planungsbehörden zu statistischen Ämtern die Rahmenbedingungen schaffen, die das internationale und entstehende nationale Kapital benötigen.

Obwohl die kapitalistischen Tendenzen in Polen und Ungarn die Grundlagen des Arbeiterstaates tief untergraben haben, ist es zu einem konterrevolutionären Umsturz der gesellschaftlichen Verhältnisse noch nicht gekommen; nach wie vor sind diese Länder als Arbeiterstaaten einzuschätzen. Ausgehend von einer großen sozialen Erschütterung diskutierte Trotzki 1933 in Der Klassencharakter des Sowjetstaates die Möglichkeit des Bürgerkriegs: „Die Arbeiter, die die Kontrolle über Staat und Wirtschaft verloren haben, könnten, um sich selbst zu verteidigen, zu Massenstreiks Zuflucht nehmen. Die Disziplin der Diktatur würde gebrochen. Unter dem Druck der Arbeiter und der wirtschaftlichen Schwierigkeiten wären die Trusts gezwungen, das System der Planwirtschaft zu durchbrechen und miteinander zu konkurrieren. Die Erschütterung des Regimes würde natürlich auf dem Lande stürmischen und chaotischen Widerhall finden und unweigerlich auch auf die Armee überspringen. Der sozialistische Staat würde zusammenbrechen; an seine Stelle träte das kapitalistische Regime, genauer gesagt, das kapitalistische Chaos“. Genau vor dieser Situation des Bürgerkriegs mit der Möglichkeit der Zerstörung der Arbeiterstaaten steht die Arbeiterklasse Ungarns und Polens, wenn es ihr nicht gelingt zu kontern.

Eine friedliche Restauration wird es nicht geben, so wenig wie es umgekehrt möglich ist, den Kapitalismus friedlich zu überwinden. Für Leninisten ist der Staat eine besondere Formation bewaffneter Menschen zur Verteidigung bestimmter Eigentumsformen. Zwar hat die Bourgeoisie mit der Bildung der neuen Regierungen einen großen Einbruch erzielt, der Loyalität von Polizei und Armee, des Verwaltungsapparates bis hinunter zu den Kommunen kann sie sich jedoch nicht sicher sein. Der Widerstand nicht nur der stalinistischen „Betonköpfe“, sondern auch der Elemente, die der Arbeiterklasse verbunden sind, muß erst noch gebrochen werden! Im Hintergrund steht die bisher noch wesentlich passiv verharrende Arbeiterklasse, deren wachsende Bereitschaft zum Widerstand bei den Kapitalisten national wie international Nervosität aufkommen läßt. Von ihr wird es entscheidend abhängen, ob die kapitalistische Konterrevolution durchkommt und die Etablierung kapitalistischer Verhältnisse sichert. Deshalb ist die Niederschlagung der Arbeiterbewegung für die Bourgeoisie notwendig!

Polen und Ungarn befinden sich in einer Übergangssituation, oder anders ausgedrückt in der Periode der Vorbereitung des Bürgerkriegs. Die bisher „friedlichen“ Methoden der demokratischen Konterrevolution (Einführung des bürgerlichen Parlamentarismus durch „freie“ Wahlen) reichen nicht mehr aus. Mit Förderung der antisemitischen Katholischen Kirche schießen rechte Parteien bis hin zu faschistischen Terrororganisationen wie Pilze aus dem Boden (taz 09.01.90). Die Polnische Unabhängigkeitspartei, „Kämpfende Jugend“ und die „Kämpfende Solidarnosc“ (unter Führung des „Radikalen“ Gwiazda, dem ehemaligen Liebling der westeuropäischen Linken) überfallen PVAP und andere Arbeiterorganisationen.

Zum Jahresende verordneten die Parlamente beider Länder auf Vorschlag der Regierungen und Geheiß des IWF ihrer Bevölkerung Austeritätsprogramme, die selbst Milton Friedmans oder Thatchers Konzeptionen in den Schatten stellen. In Polen sollen Realeinkommensverluste bis zu 25%, eine astronomische Teuerung und wie in Ungarn Massenarbeitslosigkeit durch Betriebsschließungen hingenommen werden; darüberhinaus der Abbau der „Subventionen“, in Ungarn voran die drastische Erhöhung der Mieten usw. usf.

Dahinter steht das Diktat des IWF und insbesondere des deutschen Imperialismus, den Zugriff zum ungarischen wie polnischen Markt zu erweitern: kurzfristig die Sicherung der Rahmenbedingungen zur Verwertung des Kapitals (Preis- und Währungsreform, Investitionsschutz, Beseitigung der letzten Handelsbeschränkungen etc.); mittel- und langfristig vor allem die Privatisierung und Aufkauf von staatlichen Großbetrieben und Banken. Zentrale Voraussetzung dabei: „Es muß der Regierung gelingen, die Arbeiterschaft in ein Programm einzubinden, das von vielen Opfer verlangt“ (FAZ 08.11.89). Dazu gewähren die Imperialisten „Stabilisierungskredite“ zur Durchsetzung der Schocktherapie (nachdem Ungarn als auch Poleri die Verlängerung der Kreditlinien verweigert wurde und die Zahlungsunfähigkeit drohte). Nemeth erhielt noch eine halbe Milliarde DM drauf als Dank für seine Kollaboration mit dem deutschen Imperialismus zwecks Begünstigung der DDR-Fluchthilfe via Budapest und Erpressung des Honecker-Regimes. Im Dezember überließ er es Kohl und dessen Auftritt vor dem ungarischen Parlament, die „mutigen und weitsichtigen Beschlüsse zur Erneuerung der ungarischen Wirtschaft“ (Kohl) durchzusetzen.

Mit bürgerlich demokratischen Methoden wird der Aderlaß der Bevölkerung nicht zu sichern sein. Die Stärkung bonapartistischer Tendenzen sind unübersehbar. Nemeth verließ vorsorglich das USP-Präsidium, Geheimpremier Walesa wollte seinen Strohmann Mazowiecki mit Sondervollmachten ausgestattet sehen.

Fällig ist jetzt die Antwort des ungarischen und polnischen Proletariats, die bürgerliche Offensive zu stoppen und damit ein Zeichen gegen die Rechtsentwicklung in ganz Osteuropa zu setzen. Die Mobilisierung zur Rücknahme der Austeritätsprogramme muß zum Läuten der Sturmglocken für den Sturz der Regierungen Mazowiecki und Nemeth/Poszgay werden. 1985 schrieben wir zu Polen: „Ausgangspunkt einer revolutionären Arbeit muß der konsequente Bruch mit der Solidarnosc-Tradition sein“. Jeder Tag einer Mazowiecki-Regierung wird hierfür Möglichkeiten liefern, den noch vorhandenen Einfluß von Solidarnosc bei den polnischen Arbeitern durch anschauliche Beispiele zu eliminieren. Nur der erbarmungslose Kampf gegen den stalinistischen Ausverkauf wird verhindern, daß die Arbeiterklasse erneut betrogen wird. Die aufzubauende trotzkistische Arbeiterpartei in Polen und Ungarn mit der Zielsetzung der revolutionären Räteregierung wird in ihr Programm den Grundsatz zu verankern wissen: Die Verteidigung, die Beibehaltung der Enteignung der Kapitalistenklasse ist nur möglich durch die politische Zerstörung des Stalinismus.